„Die Quellen waren mit Sexualität gesättigt“

Ist die Erzählung von der sexuellen Verklemmtheit Nazi-Deutschlands nur ein großes Missverständnis der 68er? Ein Gespräch mit der Historikerin Dagmar Herzog

INTERVIEW GUNTER SCHMIDT

taz: Frau Herzog, in Ihrem Buch „Politisierung der Lust“ schildern Sie die Sexualpolitik der Nationalsozialisten als nicht durchgehend repressiv, sondern als gespalten, widersprüchlich, partiell liberal. Was heißt das?

Dagmar Herzog: Ich war ja auch überrascht über das, was ich gefunden habe. Zunächst ging es mir überhaupt nicht um das „Dritte Reich“ selber und schon gar nicht um Sexualität, sondern um die Lehren, die aus dem Nationalsozialismus gezogen worden sind. In den ersten Nachkriegsjahren stellten Christen das „Dritte Reich“ als einen Abfall von Gott dar und forderten eine Rechristianisierung. Andere hielten den Militarismus für das schlimmste Kennzeichen des Nationalsozialismus und verlangten Pazifismus. Für viele Achtundsechziger war der autoritäre Charakter der Deutschen eine Ursache des Faschismus, sie forderten antiautoritäre Erziehung. Mich interessierte, warum Antirassismus so spät zum Thema wurde, nämlich erst nach Mölln und den anderen schockierenden Vorfällen von Misshandlung und Verfolgung von Migranten in den 80er- und 90er-Jahren.

Und was fanden Sie heraus?

Mir fiel bald auf, dass es in den Quellen immer wieder um Sexualität ging, sie waren gesättigt mit Sexualität. Die Nachkriegschristen redeten dauernd davon, dass die Deutschen im Nationalsozialismus sexuell enthemmt gewesen seien und dass Deutschland wieder „sauber“ werden müsse, wenn man den Faschismus hinter sich lassen wolle. Die Achtundsechziger hatten später die entgegengesetzte Lesart, nämlich dass die Nazis sexuell verklemmt gewesen seien und dass man sich enthemmen müsse, um den Faschismus zu überwinden. Diesen Widerspruch wollte ich verstehen. Ich wollte verstehen, warum die Diskussion über Massenmord auf dem Feld der Sexualität und der Sexualpolitik ausgetragen wurde. Dazu musste ich mich auch mit der Sexualität im NS-Staat auseinandersetzen.

Wie kann es sexuell liberal zugehen in einer Gesellschaft, in der sexuelle Minderheiten brutal verfolgt werden, ein tief patriarchalisches Frauen- und Familienbild propagiert wird, Abtreibungen martialisch bestraft oder zwangsmäßig verfügt und vollzogen werden und die Reproduktionspolitik rassistisch ist?

Für das Gros der Bevölkerung, das nicht zu den verfolgten Minderheiten gehört, war die Botschaft: „Leute, habt Spaß!“ Die Botschaft meinte Verheiratete wie Unverheiratete, Männer wie Frauen. Das ist natürlich ein Bild vom „Dritten Reich“, das man nicht gerne sehen möchte. Kondome waren zugänglich, Vorschläge für bessere Orgasmen präsent, Freude an der Sexualität war erwünscht, die ganze Diskussion war eher sexpositiv eingestellt – für Nichthomosexuelle, Nichtbehinderte, Nichtjuden.

Sie schildern eine relativ liberale Haltung zu vorehelichen Beziehungen, zur Sexualität von Jugendlichen und zum Ideal des häuslichen, mutuellen Orgasmus von verheirateten Paaren. Sind das nicht sexualliberale Petitessen im Vergleich zu den erwähnten sexualrepressiven Basics?

Klar, die Sexualpolitik der Nazis war doppelbödig. Wenn ich in Deutschland Vorträge über meine Studie halte, kommen manchmal alte Menschen auf mich zu und sagen: „Stimmt, das war liberaler als Weimar. Für uns war’s liberaler. Wir haben das so erlebt. Der Schwenk in den Konservatismus kam in den 50er-Jahren.“ Das müssen wir ernst nehmen. In der Nachkriegszeit klagten die Kirchen über die sexuelle Enthemmung im „Dritten Reich“. Das war natürlich eine Übertreibung, die den Kirchen half, sich als Widersacher der Nazis darzustellen, um ihre Mitverantwortung dafür zu verleugnen, dass sie den Antisemitismus geschürt und den Nationalsozialismus mitlegitimiert haben. Ich sehe schon, dass die Klagen über die lockeren Sexualsitten im „Dritten Reich“ funktionalisiert wurden; aber sie waren auch plausibel, weil Menschen das so erfahren hatten.

Dieser enorme konservative Schub, der in den 50ern von den Kirchen und der Politik ausging, war der Persilschein, den man sich selbst ausstellte?

Da kamen Ernsthaftigkeit und Zynismus zusammen. Sie glaubten wirklich, dass sie das Richtige machten. Sie ehren Gott, indem sie die Deutschen zurück zur sexuellen Sauberkeit bringen. Das war ehrlich gemeint, und zugleich war es zynisch und funktionalisierend. Linke Christen, couragierte Antifaschisten wie die Autoren der von Walter Dirks herausgegebenen Frankfurter Hefte sprechen in den späten 40er-Jahren davon, dass Abtreibung gleich Auschwitz sei. Auch intellektuelle, eher linksgerichtete und liberale Christen verwendeten solche schrecklichen Analogien. Sie waren ehrlich überzeugt, dass die Grenzüberschreitung in sexuellen Dingen mit einer Grenzüberschreitung gegenüber Wehrlosen eng verknüpft war – und haben dennoch dazu beigetragen, die Christen als Opfer der Nationalsozialisten zu stilisieren, statt sie als deren Geburtshelfer zu begreifen.

Gibt es nicht noch eine andere Funktionalisierung, nämlich die Indienstnahme der Nazigräuel, um die eigenen moralischen Positionen wieder unter das Volk zu bringen? Ein Volk, das diese Positionen seit den 20er-Jahren nicht mehr teilte?

Genau das ist passiert. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatte Deutschland die liberalste Sexualkultur in der Welt, und es war seit langem ein Bedürfnis der Konservativen, damit aufzuräumen. In den 50er-Jahren sahen sie ihre Zeit gekommen. Aber dieses militante sexualmoralische Sperrfeuer von Kirchen und Politik hatte einen erstaunlich geringen Effekt.

Sie schildern, dass Anfang der 60er-Jahre liberale Einstellungen zur vorehelichen Sexualität von einem sehr hohen Niveau um 10 Prozentpunkte gesunken waren – und immer noch sehr viel ausgeprägter waren als in den USA oder in Großbritannien. Viel Lärm um wenig?

Einerseits war die Befürwortung und Praktizierung des vorehelichen Koitus in Deutschland sehr viel verbreiteter als in den meisten Ländern der westlichen Welt. Andererseits wurde die Sexualität wegen des Geschnatters der Kirchen und der Regierung nun anders erfahren, Sex wurde wieder stärker mit Scham und Schuld besetzt. Frauen berichten über eine wahnsinnige Angst vor Schwangerschaft und über entwürdigende Umstände, unter denen sie abtrieben. Diese Selbsterniedrigung, die haben sie dann auch ins Bett getragen – ob darin nun ein vorehelicher Liebhaber lag oder der Ehegatte.

Am konkretesten waren die Auswirkungen dieser Retraditionalisierung dort, wo sie politisch oder administrativ umgesetzt wurden.

Ja, in den 50ern wurde der Zugang zu Verhütungsmitteln erschwert, die gesetzliche Verankerung der weiblichen Unterordnung und die Erschwerung der Scheidung erfolgten noch Anfang der 60er-Jahre. 1962 kam dann der berüchtigte Entwurf zur Verschärfung des Sexualstrafrechts auf den Plan, der 1963 im Bundestag verabschiedet werden sollte. Das ist der Moment, wo der große Umschwung kam. Liberalere jüdische Remigranten und Exnazis und von jeher Liberale haben gemeinsam großen Krach gemacht und auch junge Wissenschaftler mitbewegt, zum Beispiel in dem Buch „Sexualität und Verbrechen“.

Wer waren die liberalen Exnazis, die dagegen gekämpft haben?

Das wissen Sie sehr gut: Hans Bürger-Prinz und Hans Giese, die Begründer der Beiträge zur Sexualforschung, die Sie, Martin Dannecker und Volkmar Sigusch heute herausgeben. Das finde ich immer noch wahnsinnig interessant.

Wer waren die Mentoren der Sexualwissenschaftler Ihrer Generation?

Jüdische Remigranten – bei den einen war es Curt Bondy, bei anderen Adorno – und Exnazis. Es ist wichtig, festzuhalten, dass die sexuelle Liberalisierung Westdeutschlands nicht ohne diese Kombination passiert wäre. Und man soll festhalten, dass das nicht möglich gewesen wäre ohne die Kooperation zwischen diesen Älteren, die das „Dritte Reich“ – in Deutschland oder im Exil – noch erlebt haben, und den Jüngeren, die dann ein paar Jahre später zur neuen Linken gehörten. Man vergisst immer, dass es Anfang der 60er-Jahre diese wichtige, generationenübergreifende Zusammenarbeit gab.

Der Leser fragt sich: Wie unterscheiden Historiker generelle und landesspezifische Effekte?

Ob wir jetzt auf England, Frankreich, Italien, die USA, Österreich oder Deutschland schauen, überall wurde in den 50ern versucht, eine sehr konservative Sexualkultur wiederzubeleben. Aber dieser Prozess hatte in jedem Land eine andere Funktion und wurde aus unterschiedlichen Gründen „von unten“, also vom Volk, mitgetragen. Auch in den USA verschärfte sich die konservative Rhetorik in den 50er-Jahren. Die Rockefeller Foundation, die bis dahin die Forschungen Kinseys großzügig unterstützt hatte, stellte die Förderung abrupt ein; im McCarthy-Amerika war ein Sexualliberaler ein kommunistischer Unterwanderer. In den USA hat die Redomestizierung viel mit der Bedrohung im Kalten Krieg und mit einer Stabilisierung nach dem Krieg zu tun. Durchschnittsbürger und -bürgerinnen hatten ein starkes Bedürfnis nach Nestwärme. Nach so vielen Trennungen, nach so vielen Verlusten verlockte der Rückzug in die private Idylle. Letzteres spielte auch in Deutschland und Österreich eine Rolle, aber auch der Versuch einer moralischen Kompensation.

Während in den 50er-Jahren die partiell sexualliberalen Aspekte des NS-Regimes für die deutschen Konservativen herhalten mussten, um die sexuelle Restauration voranzutreiben, nahmen die Achtundsechziger diese sexualliberalen Tendenzen nicht mehr wahr, sie wurden vergessen?

In den 50er-Jahren ging viel Wissen über das „Dritte Reich“ verloren. Die Älteren hatten gute Gründe, nicht zu reden, sie stilisierten sich lieber zu Opfern der Zeit. Das hat ja auch ziemlich gut geklappt. Die Kinder kriegten wenig mit über das Leben ihrer Eltern im „Dritten Reich“ und dass das für manche schöne Zeiten waren. Sie hörten lediglich Geschichten aus dem Krieg, über die Bombennächte und über die Nöte der Nachkriegszeit, sonst nichts. Und dann, 1963, kommt der Auschwitz-Prozess. Das ist für mich ein wichtiger Einschnitt in der Sexualgeschichte Westdeutschlands. Im Spiegel wurde einer der Staatsanwälte mit dem Satz zitiert, Auschwitz sei von Spießern erbaut. Die Ehefrau eines Angeklagten sagte vor Gericht, ihr Mann sei doch so ein netter Mann, er habe mit ihr geweint, als ihr Kätzchen gestorben sei. Ich kann gut verstehen, dass junge Leute, die das damals lasen oder hörten, das zum Kotzen fanden und sich sagten: Nichts wie raus aus diesem Milieu. Der Begriff „Spießer“ war 1963 noch ganz mit geistiger Enge, emotionalem Mief und dumpfer Sentimentalität assoziiert, wurde aber innerhalb weniger Jahre zunehmend sexuell konnotiert: Der Spießer war nun auch sexuell verklemmt, unterdrückt und unterdrückend. Arno Plack brachte 1967 die neue Sicht mit dem Satz auf den Punkt: Das, was in Auschwitz geschehen war, sei typisch für eine Gesellschaft, die die Sexualität unterdrückt.

Sie nennen die Idee der Achtundsechziger vom durchweg sexuell repressiven „Dritten Reich“ nicht antifaschistisch, sondern antipostfaschistisch. Warum?

Sie sind antipostfaschistisch, weil sie auf den Konservatismus der Nachkriegszeit reagierten. Die Achtundsechziger haben nicht verstanden, dass die sexuell konservative Kultur, gegen die sie rebellierten, eine Art Vergangenheitsbewältigung ihrer Elterngeneration war. Das ist meine These.

Wandten sich die Studenten nicht gegen das, was ich vorhin die repressiven Basics genannt habe, also Minderheitenverfolgung, Abtreibungsverbot, patriarchalische, autoritäre Familien- und Geschlechterstrukturen?

Ich verstehe nicht, wieso voreheliche Sexualität und weiblicher Orgasmus „liberale Petitessen“ sein sollen!

Gut, aber sie rebellierten doch gerade gegen die Sexualkonzepte der Nationalsozialisten, die ihre Eltern nicht in Frage gestellt hatten, sie zielten auf eine andere Repression. Sie zitieren aus einer Broschüre der Berliner Kinderläden …

„Auch wenn zehnmal mehr gebumst würde als früher, wäre das keine eigentliche Befreiung der Sexualität“ und der gleichzeitige Orgasmus allein könne „noch nicht als befriedigende Form der Sexualität angesehen werden“.

Ja, darin steckt doch Empörung über die viel basaleren Formen sexueller Ungleichheit und Behinderung.

Das ist für mich sehr bewegend, und ich versuchte, das darzustellen und zu würdigen. Wir sind ja in einer Phase von Achtundsechziger-Bashing, und ich will mich daran keinesfalls beteiligen.

In Ihrer Darstellung der Sexualkonzeptionen der Achtundsechziger beziehen Sie sich vor allem auf die Kommunen 1 und 2 und auf die Kinderladenbewegung?

Die wurden ja auch heiß diskutiert. Und von Achtundsechzigern selbst besonders scharf kritisiert.

Sie zitieren ausführlich Reimut Reiches und Rudi Dutschkes Einwände.

Beide Bewegungen sind in ihrer Radikalität deutsche Phänomene. Natürlich gab es auch in den USA junge Leute, die ihre Kinder kollektiv erzogen haben. Aber diese forcierte Sexualisierung der Kinder gab es nicht. Aber es ging in der Kinderladenbewegung nicht nur um diese fragwürdigen sexualpädagogischen Experimente. Deutschland hatte im Vergleich zu anderen westlichen Ländern ein erhebliches Defizit in der mentalen Entwicklung, die holländische Soziologen einmal den Übergang von der Gehorsamsfamilie zur Verhandlungsfamilie genannt haben.

Es ist ein Verdienst der Kinderladenbewegung, diese Diskussion in Deutschland provoziert zu haben.

Auf jeden Fall. Das ist eine der größten Leistungen der neuen Linken.

Zwei zentrale Manifeste der Sexualkonzeptionen der Achtundsechziger spielen in Ihrem Buch nur eine geringe Rolle, Günter Amendts „Sexfront“ und Reimut Reiches „Sexualität und Klassenkampf“.

Obwohl ich die beiden so verehre! Das hat wohl damit zu tun, dass mein Buch am Anfang keine Sexualitätsgeschichte werden sollte, sondern eben eine Vergangenheitsbewältigungsgeschichte. Die Bücher von Reiche und Amendt haben mit diesem Thema nicht viel zu tun; das ist wohl der Grund, warum ich mich in meinem Buch mit ihnen kaum befasse. Eine schlechte Ausrede, aber immerhin eine Erklärung. Ich schätze beide Werke. Reiche hat ein etwas normativeres Verständnis von Sexualität. Man spürt in „Sexualität und Klassenkampf“ nicht nur ein Aufbegehren gegen die Gesellschaft, sondern auch eine Vorstellung davon, was normale Sexualität ist. Und an Günter Amendt schätze ich sehr, dass für ihn die Frage nach dem „Normalen“ schon mal die erste falsche Frage ist.

Sie beschreiben sehr genau, dass die Liberalisierung der späten 60er-Jahre keineswegs nur eine Sache der Studentinnen und Studenten gewesen ist, sondern eine breite Bewegung – aller Schichten, der Medien, ja selbst der Kirchen.

Ja, auch der Kirchen, das untersuche ich in meinem Buch ausführlich.

Diese „überbordende Sexwelle“, wie Sie sagen, mit der Sexualisierung der Öffentlichkeit, den Aufklärungskampagnen, der prosexuellen Propaganda, dem Sex- und Pornografiekonsum stellen Sie unter marktkritischen Vorbehalt, und Sie schildern sie mit einem leichten Unterton moralischer Missbilligung. Wieso?

Überhaupt nicht. „Im ganzen Land war man fasziniert vom Ehebruch“, heißt es, „Sexbesessenheit wurde zu einer respektablen Freizeitbeschäftigung.“

Sie konstatieren einen „unglaublichen Hunger der Westdeutschen nach Pornografie“, der wackere Oswalt Kolle wird zum „selbsternannten Sexapostel“, die ganze Republik ist ein „sexueller Vergnügungspalast“.

Und was ist falsch am Vergnügungspalast? Wir würden doch alle gern im Vergnügungspalast leben. Sie schieben mir Ihre eigenen moralischen Normen in die Schuhe. Was ich besser verstehen möchte, ist dieses Phänomen des forcierten Voyeurismus. „Sex als Zuschauersport“ hieß es in einem Spiegel-Bericht über die Sexwelle. Diese Obsession, wissen zu wollen, was andere Leute im Bett machen. Kinsey verkündete Ende der 40er, Anfang der 50er: „Seht, alle anderen machen auch das Nichtnormative. Einmal tief durchatmen, alles ist okay.“ Diese Botschaft war erleichternd und befreiend. In den 60ern hieß es dann: „Alle anderen haben besseren Sex als du.“ Irgendwer hat die bessere Technik, den besseren Trick, irgendwo gibt es einen leidenschaftlicheren Partner. Das Gefühl, es nicht toll genug zu haben, dass es tiefer, wilder, befriedigender sein könnte, stammt aus den 60ern und ist heute extrem ausgeprägt, in den USA auf jeden Fall. Diese Unsicherheit macht die Leute manipulierbar und bereit, sich immer wieder auf die Medienratschläge zu stürzen.

Die zeitliche Nähe von Auschwitz-Prozess und Sexwelle bringt Sie zur Frage: „Wollte sich hier eine Gesellschaft angesichts ihrer Vergangenheit vor massiver Depression und Konfrontation mit sich selbst schützen, indem sie sich in einen Zustand steter sexueller Aufforderung und Erregung versetzte?“

Das Fragezeichen muss mitgelesen werden. Die Achtundsechziger waren nicht die Ersten, die das Trauma der Vergangenheit auf die Ebene der Sexualität schoben und dort zu verarbeiten versuchten. Schon ihre Eltern haben den Holocaust sexualisiert, wenn auch mit umgekehrten Vorzeichen, nämlich mit einer rigiden Sexualmoral.

Aber waren es in den 60ern nur die moralisch ernsthaften Studenten, die unbewältigte Affekte auf die Sexualität verschoben? War dieser Umgang mit der Vergangenheit nicht ein gesamtgesellschaftliches Problem?

Auch in der DDR kam es zur Retraditionalisierung in den 50er und zur sexuellen Liberalisierung in den 60er Jahren.

Sie verstehen die Entwicklung in der DDR als sexuelle Evolution – ohne die mal extrem reaktionären, mal extrem liberalistischen Konvulsionen wie in der BRD.

Ja, in den 50er-Jahren herrschte auch in der DDR eine große Strenge, die mit sozialistischem Jargon untermauert war. Auch hier wurde das auf den Nationalsozialismus bezogen. Hilde Benjamin zum Beispiel sagte dem Sinne nach, die Nazis seien sexuell enthemmt gewesen, jetzt müsse etwas sozialistisch Sauberes kommen. Anfang der 70er dann – die Regierung war nervös, dass die DDR-Jugend auch Radau machen könnte – wurde den Jugendlichen in Zeitschriften wie Für dich auf einmal gesagt: Ihr dürft Sex haben, auch schon mit 16, der Sozialismus bietet die besten Bedingungen für freie und glückliche Liebe. Ganz im Gegensatz zur BRD wurde allerdings die Frauenerwerbstätigkeit von Anfang an befürwortet und gefördert. Das war eine außerordentlich wichtige Differenz zwischen den beiden deutschen Staaten, denn die Marxisten haben doch ganz recht damit, dass die finanzielle Unabhängigkeit der Frau die Machtverhältnisse zwischen den Geschlechtern stark verändert.

Sie behaupten, die fortschrittliche Position der Frauen habe eine besondere Form der Heterosexualität in der DDR hervorgebracht.

Ja, bestimmt. In den 50er- und 60er-Jahren gab es noch diese große Wohnungsnot, die die sexuelle Entfaltung junger Leute beschränkte. Doch mit der Liberalisierung in den 70ern konnte diese freiere Sexualkultur zwischen Mann und Frau entstehen. Das wird von Zeitzeugen immer wieder beschrieben. In den 90ern, der Kollaps des Kommunismus lag nicht so weit zurück, traf ich auf Konferenzen oft Ex-DDR-Frauen. Sie hielten mich für eine Westdeutsche, und ihre herablassende Art, mit mir über Sexualität zu sprechen, verwunderte und amüsierte mich: „Ach, die armen westdeutschen Frauen. Die haben natürlich viel weniger Orgasmen und nicht so schöne wie die ostdeutschen.“ Ich bekam zu hören: „Ja, ihr Westfrauen, ihr redet immer drüber, aber wohl nur, weil ihr nicht so viel Freude daran habt.“ Und natürlich gab es im Osten auch eine andere Art von Männlichkeit, die sich durch die starken Frauen nicht bedroht fühlte. Wenn Frauen nicht arbeiten und finanziell abhängig sind, bringt das ein ganz anderes Machtgefälle ins Bett, das ist doch klar.

Auf der letzten Seite Ihres Buchs zitieren Sie den Strafrechtler Herbert Jäger mit dem Satz „Ich kann mir vorstellen, in einer sexuell freieren Gesellschaft hätte so ein System wie Auschwitz nicht entstehen können“. Hängt die Evidenz dieser Aussage nicht davon ab, wie man eine „sexuell freiere Gesellschaft“ definiert?

Ganz sicher. Wenn damit nicht nur Freizügigkeit im Hinblick auf bestimmte sexuelle Verhaltensweisen bestimmter Gruppen gemeint ist, sondern eine Haltung, die die Vielfalt sexueller Formen und Beziehungen respektiert und sexuell Andere toleriert. Eine solche Gesellschaft wünsche ich mir auch, und man kann sie nicht haben ohne andere Formen von Gerechtigkeit. Andererseits beharre ich darauf, dass die Kausalzusammenhänge, die viele Deutsche im Nachhinein immer wieder konstruiert haben, so nie existiert haben. Man kann Auschwitz nicht verhindern, indem man frei fickt, und man kann Auschwitz nicht verhindern, indem man sexuell streng ist, das ist einfach zu simpel. Sexualität an und für sich gibt es nicht, sie ist immer von Politik durchtränkt, sie wird von so vielen Lebensbereichen durchkreuzt. Ich wollte Herbert Jäger Tribut zollen, diesem Bemühen um die Frage „Wie hängen Lust und das Böse und Lust und das Gute zusammen?“. Aber ich denke, dass darin eine falsche Lesart des „Dritten Reichs“ steckt. Das Schockierende am „Dritten Reich“ ist doch auch, dass eine Mehrheit Freuden nachgehen konnte, während Minderheiten unglaubliches Leid zugefügt wurde. Das müssen wir in den Blick kriegen. Tun wir diesen Minderheiten nicht noch einmal weh, wenn wir sagen: „Ach ja, wir waren alle ein bisschen unterdrückt“? Die These vom sexuell repressiven „Dritten Reich“ verfehlt die schockierende Wirklichkeit, dass Leute ihre Narrenfreiheit lebten, während andere getötet wurden.

Werden Sie weiterhin zur deutschen Sexualgeschichte forschen?

Im Moment befasse ich mich mit der religiösen Rechten in den USA. Die Fundamentalisten arbeiten intensiv an der sexuellen Restauration. Sie sind aggressiv und feindselig gegen Homosexuelle, und sie sind militante Abtreibungsgegner. Sie fordern Abstinenz vor der Ehe und werben dafür mit sexuellen Argumenten: Glückliche Orgasmen in lebenslangen Ehen seien die Belohnung für voreheliche Keuschheit. Das ist die Sexualisierung repressiver Sexualmoral. Die Demokraten halten still, selbst Hillary Clinton rät Jugendlichen, abstinent zu leben. 1988 haben nur 2 Prozent der Lehrerinnen und Lehrer Abstinenz als alleinige Möglichkeit propagiert, Geschlechtskrankheiten und ungewollte Schwangerschaften zu vermeiden, 2003 waren es schon 30 Prozent. Der Umschwung ist überall zu spüren, bei Politikern, bei Studentinnen und Studenten, bei Schwarzen und Weißen, in der Unter- und in der Mittelschicht. Die Hintergründe will ich verstehen.