Ich ist eine andere

Kanonische Autorin, mutige Essayistin – das ist Virginia Woolf. Ihre Briefe, pünktlich zum 125. Geburtstag erschienen, bringen dieses Bild ins Schweben

VON JUDITH LUIG

Am meisten Angst vor Virginia Woolf hatte Virginia Woolf selbst. „Nie hat eine Frau das ‚Schreiben‘ so gehasst wie ich“, schreibt sie 1907 an ihre Freundin Violet Dickinson. Kein Wunder. Unter der strengen Kontrolle ihres Mannes hat sie später ihre Manuskripte oft bis zu fünfmal umarbeiten müssen. In ihren Briefen wechseln sich Höhenflüge über das eigene Genie mit Angst vor dem Versagen ab. „Oh, was für ein Tag! Er klebt an den Fingern und kriecht unter die Nägel“, jammert sie einmal in Zeiten der Sorge um ihren Erfolg. Ein anderes Mal sprudelt sie über: „Ich schreibe für – hier meine Prahlerei – The Times Literary Supplement. The Academy. The Guardian. Ist das nicht beachtlich?“

Beachtlich ist Virginia Woolf (die am 25. Januar vor 125 Jahren geboren wurde) tatsächlich. So sehr, dass die Macher des Kinofilms „The Hours“ 2002 Nicole Kidman für ihre Darstellung der Ausnahmeerscheinung eine grotesk große Plastiknase anklebten. Sie orientierten sich damit wohl an der Fotografie von George Beresford aus dem Jahr 1902, das am meisten ihre Rezeption geprägt hat: eine ernsthafte junge Frau mit einem unwirklich langen und schmalen Gesicht. Doch Kidmans Hässlichkeitsoperation stakt der Hollywoodschönheit aus dem runden Gesichtchen und scheint zu sagen: Schön und klug, das passt eben nicht zusammen.

Genau dieser vermeintliche Widerspruch machte die Besessenheit Woolfs aus. Die Schriftstellerin Virginia Woolf ist Virginia Woolfs größte Herausforderung. Woolfs Darstellungen menschlichen Innenlebens zeigen immer wieder Kämpfende, die sich aus den Konventionen, die ihnen auferlegt werden, befreien wollen. Sie selbst arbeitet sich zeitlebens an zwei Dominanten ab: ihrer Weiblichkeit und ihrem Schreiben. „Selbstsucht“ – so nennt ihre brillante Biografin Hermione Lee diese Fixierung. „Mein lieber George“, schreibt sie, noch bevor sie sieben Jahre alt ist, an ihren Patenonkel: „Ich bin ein kleiner Junge und Adrian ist ein Mädchen. Ich habe Dir Schokolade geschickt, auf Wiedersehen, Virginia.“

Festlegen lassen möchte sich diese Autorin nicht. Nur im erzählerischen Umkreisen eines Themas erreicht der Denkende für sie den Kern. So ist das auch mit ihrer eigenen Identität. Nur die Fiktion bringt die Wahrheit näher. „Ich“, so schreibt sie, sei nur eine Figur: „Nur ein zweckmäßiges Wort für jemanden, den es nicht wirklich gibt.“

Dass man ihr als Frau die Männerwelt verbieten wollte, hat sie am meisten geärgert. In dem berühmten Essay „Ein eigenes Zimmer“ wird die Erzählerin von der Universität der Männer verscheucht. „Er war ein Pedell: ich war eine Frau“, erklärt das erzählende Ich den Zwischenfall. „Dies war der Rasen, dort der Weg. Hier sind nur die Gelehrten zugelassen, mein Ort ist der Kies.“

Von einem solchen „Ich“, das vertrieben werden kann, dem man den Zugang verwert, will sie sich lösen. Gegen den Widerstand ihrer Welt. „Meine Liebe“, warnt eine Hüterin der Weiblichkeit die Schreibende in Woolfs Essay „Berufe für Frauen“ (1931): „Du bist eine Frau. Sei einfühlsam; sei sanft; schmeichle; täusche, brauche alle Listen und Ränke unseres Geschlechts.“ Sätze, die man heute noch in den Sextipps gängiger Frauenzeitschriften lesen kann. Doch diese Form von Täuschungen meint die Erzählerin nicht. „Ich kehrte mich gegen sie und ging ihr an die Kehle.“ Indes: „Es ist weit schwieriger, ein Phantom totzukriegen als eine Realität.“ Weiblichkeit, so hat Virginia Woolf Jahrzehnte vor Judith Butler erkannt, ist fiktiv. „Was ist eine Frau? Ich versichere Ihnen, ich weiß es nicht. Ich glaube nicht, dass Sie es wissen.“

Eine Feministin ist Woolf nicht. Ihre Solidarisierung mit anderen Frauen auf dem Kiesweg schwankt. „Der Teufel hole diese Katherine!“, schreibt sie 1921, erbost über die allgemeine Begeisterung für die Schriftstellerin Katherine Mansfield. „Wieso kann ich nicht die einzige Frau sein, die schreibt?“ Inkonsequent sind letztendlich auch ihre Forderungen nach einem weiblichen Schreibcode und einer weiblichen Welterfahrung, auf die sich die Feministinnen der 70er- und 80er-Jahre so gern begeistert beriefen.

Die Männer, die über Frauen geschrieben haben, so erklärt Virginia Woolf, hätten sich ständig selbst widersprochen. „Wenn man also nichts über F in der Vergangenheit erfahren habe, warum soll man sich dann mit der Zukunft von F beschäftigen?“ Doch gerade weil ihre Figuren sich einer geschlechtlichen Festlegung entziehen, könnten die Texte einer der berühmtesten Stilbildnerinnen der Moderne in der Postmoderne wieder reizvoll sein. Man muss sie nur unter anderen Vorzeichen lesen.

Identität – sei es nationale, sexuelle oder religiöse – scheint gerade das Gebot der Stunde. Und Virginia Woolfs Ringen um ein Selbst bietet viele spannende Erkenntnisse über die Konstruktion einer Identität. In ihren Briefen, die gerade neu im Fischer Verlag erschienen sind (2 Bände, je 39 Euro), geriert sie sich mal als selbstbewusste Kämpferin, mal als Verzweifelte, an manchen Stellen sprüht sie, an anderen wabert es zähe Alltagsbeschreibungen.

Hier dokumentiert sich ihr ewig schwebender Dialog zwischen Männlichkeit und Weiblichkeit als ein Prozess ständiger Verschiebungen. Einmal sehnt sie sich nach der Welt der Männer, ein anderes Mal lehnt sie sie beleidigt ab. „Ich beabsichtige, in Zukunft nur noch die Gesellschaft von Frauen zu kultivieren“, schreibt sie 1925. „Bei Frauen schwimmt man sofort in eine stille Dämmerung hinein.“

Aufgewachsen ist Woolf im Kreise der großen, männlichen, britischen Autoren der Jahrhundertwende, die im Haus ihres Vaters verkehrten. „Sie müssen viele berühmte Persönlichkeiten gekannt haben“, fragte sie einmal ein älterer Mann. „Ja“, erwiderte Woolf knapp, „aber das Erstaunliche ist, dass all diese großen Leute immer ganz so redeten wie Sie. Tennyson zum Beispiel sagte oft zu mir: ‚Könnte ich bitte das Salz haben.‘ “

Ihre Flucht aus Männer- und Frauenwelten führte in die Androgynität. Die diffuse Ungeschlechtlichkeit hat Virginia Woolf mehr gereizt, Themen, die ihren Roman Orlando beleben. „Diese vage und traumartige Welt ohne Liebe, oder Herz, oder Leidenschaft, oder Sex, das ist die Welt, an der mir wirklich etwas liegt.“ Nicht nur die Grenzen zwischen den Geschlechtern werden in Woolfs Texten oft fließend. Auch die Trennung zwischen Tier und Mensch verschwimmt. Ihre Schwester nennt sie einmal Honigbiene und sie empfiehlt sich mit den Worten: „Die Affen küssen Dich.“ Ihrer Freundin Emma Vaughn gibt sie Fantasievariationen des englischen Wortes für Kröte als Kosenamen: Toad, Toadger, Toadlebinks. Ihren damaligen Verlobten Leonard Woolf bittet sie 1912: „Du wirst nicht aufhören, jenes exzentrische, aber bezaubernde Tier zu sein, wenn wir verheiratet sind. Nicht wahr?“

In den privaten Briefen zeigt sich eine ganz andere Virginia Woolf als die scharfe Intellektuelle der öffentlichen Schriften. Sie ist den Adressaten zugewandt, erkundigt sich akribisch nach Befindlichkeiten. In die Sorge um andere mischt sie auch die eigenen Unsicherheiten: „Erzähl mir, ob Du das Gefühl hast, eine gute Frau zu sein“, bittet sie Violet Dickinson 1903. Auch Vorwürfe gegen ihr Schreiben behandelt sie hier. Ihr Schwager, Clive Bell, hatte ihre Darstellung von Männern als didaktisch, „um nicht zu sagen affektiert“, bezeichnet. „Möglicherweise ist ein Mann, aus psychologischen Gründen im gegenwärtigen Zustand der Welt kein sehr guter Beurteiler des eigenen Geschlechts“, gibt sie kühl zurück, verfällt dann aber sofort in Schmeicheleien und dürstet nach Bestätigung.

Die Virginia Woolf der Briefe ist eine viel leichtere, schwebendere, aber auch unsicherere Figur als die perfektionistische Romanautorin und mutige Essayistin Virginia Woolf. Kontrastiert wird das durch ihre radikale Offenheit. „Meine Kühnheit“, so sagt sie selbst über ihr Werk, „erschreckt mich.“