„Durch Unterlassung sich strafbar gemacht“

Die Bundesregierung hätte Kurnaz helfen müssen, sagt BND-Ausschuss-Mitglied Wolfgang Neskovic

taz: Herr Neskovic, Sie sind Strafrichter von Beruf. Wie beurteilen Sie im Fall Kurnaz das Verhalten der Regierung?

Wolfgang Neskovic: Wenn sich bestätigt, dass die Bundesregierung aktiv und planmäßig die Rückkehr von Herrn Kurnaz verhindert hat, dann kommt eine strafrechtliche Verwantwortung wegen Freiheitsberaubung und Körperverletzung ernsthaft in Betracht. Das, was Herr Kurnaz fast vier weitere Jahre auf Guantánamo erleiden musste, wäre dann der Bundesregierung auch strafrechtlich zuzurechnen.

Guantánamo war doch eine Einrichtung der USA, wie kann sich ein deutscher Minister dort strafbar machen?

Die Bundesregierung hätte Herrn Kurnaz helfen können, als die Amerikaner Ende 2002 dessen Überstellung anboten. Nach den vorliegenden Presseberichten hat sie diese Hilfe verweigert. Damit kann sie sich durch Unterlassen strafbar gemacht haben. Die Freiheitsberaubung, die Schläge und die Folterungen würden dadurch auch zu ihren Taten.

Nicht jeder der untätig ist, ist Unterlassenstäter …

Richtig. Nach dem Strafgesetzbuch macht sich ein Untätiger nur dann strafbar, „wenn er rechtlich dafür einzustehen hat, dass der Erfolg nicht eintritt“. Erforderlich ist also eine so genannte Garantenstellung. Wer Garant ist, bestimmt sich zum Beispiel aus gesetzlichen Verantwortlichkeiten.

Kurnaz war kein deutscher Staatsbürger. Wie kann die Regierung da Garantin sein?

Sie muss ihn zwar nicht konsularisch betreuen. Aber wenn jemand, der unschuldig auf Guantánamo misshandelt wird, gerettet werden könnte, dann ist es eine rechtliche Pflicht der Bundesregierung, dies zu tun. Nach Artikel 1 des Grundgesetzes ist es eine zentrale Aufgabe des Staates, die Würde des Menschen zu schützen. Das gilt nicht nur für deutsche Staatsbürger.

Ist die Bundesregierung etwa Garantin für alle unschuldigen Gefangenen auf der ganzen Welt?

Natürlich nicht. Aber Herr Kurnaz ist in Deutschland aufgewachsen und hatte einen deutsche Aufenthaltsgenehmigung. Deshalb haben die USA ja auch der Bundesregierung eine Rückkehr von Herrn Kurnaz angeboten. Aber wenn das als Begründung einer Garantenstellung nicht genügen sollte, gibt es auch noch einen zweiten Ansatzpunkt: die von der Bundesregierung mit herbeigeführte Gefahrenlage.

Was meinen Sie damit?

Schon bei den ersten Verhören in Kandahar hatten die Amerikaner Detailkenntnisse aus Kurnaz’ Leben, die nur aus deutschen Ermittlungsakten stammen konnten. Kurnaz stand in Deutschland ja wegen seiner überstürzten Abreise nach Pakistan unter Terrorverdacht. Vermutlich haben Informationen aus Deutschland dazu geführt, dass Kurnaz nach Guantánamo gebracht wurde. Den meisten Häftlingen in Kandahar blieb das erspart. Schon deshalb hatte die Bundesregierung die Pflicht, Herrn Kurnaz zu helfen, als dies möglich war und sich seine Harmlosigkeit herausgestellt hatte.INTERVIEW: CHRISTIAN RATH