Deutsch lernen, quasi nebenbei

FÖRDERN Das zentrale Ziel des Berliner Bildungsprogramms für Kitas ist die Sprachförderung. An deren Qualität hapert es jedoch, sagen Experten – vor allem, weil Erzieher zu viele Kinder betreuen müssen

■ Das Berliner Bildungsprogramm für Kitas (BBP) erklärt, was Kinder zur Selbst- und Welterkenntnis benötigen, wie sie sich Bildung aneignen und welche entsprechenden Methoden ErzieherInnen anwenden sollen. Im BBP geht es auch um „demokratische Teilhabe“, die Zusammenarbeit mit Eltern, den Übergang zur Grundschule.

■ Inhaltlich werden Ziele in sieben Bildungsbereichen definiert: Körper/Bewegung/Gesundheit, Soziales/Kulturelles, Kommunikation mit Sprache/Schrift/Medien, Gestalten/Malen, Musik, Mathematik und Naturwissenschaften/Technik.

■ Der Bereich Kommunikation gilt dabei als übergreifendes Arbeitsprinzip, sprich: der ganze Kitaalltag soll sprachanregend gestaltet sein. Experten nennen das „alltagsintegrierte sprachliche Bildung“. Darüber hinaus erhalten Kinder in den Kitas nach Bedarf in Kleingruppen gezielte Sprachförderung. (sum)

VON SUSANNE MEMARNIA

Vierspurig rauscht der Verkehr auf der Falkenseer Chaussee. Ein fabrikartiger roter Backsteinbau beherbergt neben einer Werkstatt für Behinderte die AWO-Kita „Sternschnuppe“. An diesem sonnigen Vormittag sind viele der 188 Kinder im Freigelände. Nur die „Elefanten“ haben sich entschieden, drinnen zu bleiben: Nach der Vorschularbeit, bei der sie Zahlen ausgemalt haben, wollen die Kinder jetzt lieber basteln oder Memory spielen.

Erzieherin Sema Ambarci hilft einem Fünfjährigen, aus Holzstöcken ein Körbchen zu kleben. Dabei kommentiert sie jeden Handgriff. Zur Journalistin gewandt erklärt sie: „Die Sprache lernen sie bei allem, was wir tun, quasi nebenbei. Wir singen viel, lernen Gedichte, machen Rollenspiele. Auch in den Wald gehen ist gut, zum Deutsch lernen.“

Das Falkenhagener Feld in Spandau ist eine Großsiedlung mit 20.000 Einwohnern und gilt als sozialer Brennpunkt. Rund 35 Prozent der Einwohner beziehen Transferleistungen, die Kinderarmut ist noch höher: Jedes zweite Kind ist abhängig von existenzsichernden Leistungen. Den Kindern, die die Kita „Sternschnuppe“ besuchen, merkt man das an, erzählt die Leiterin der Einrichtung, Valerie Fischer-Weituschat: „Es gibt viele bildungsferne Familien, in deren Wohnungen wir bei Hausbesuchen kein einziges Buch sehen und wo den ganzen Tag der Fernseher läuft.“ Entsprechend schlecht seien die Sprachkenntnisse vieler Kinder, bei deutschen ebenso wie bei denen nichtdeutscher Herkunft (ndH), wenn sie in der Kita angemeldet werden.

Dort, so beschreibt es das für alle Kitas verbindliche Berliner Bildungsprogramm (BBP), ist Sprachförderung ein zentrales Ziel. Sie erfolgt „alltagsintegriert“ (siehe Kasten): Die Erzieher sollen alle möglichen Situationen sprachlich begleiten – ob beim Wickeln, Essen oder Spielen. Die Kitas selbst sollen zudem „sprachförderlich“ gestaltet sein, dazu zählen etwa Namensschildchen an der Garderobe statt Symbolen, wie es früher üblich war.

Wie sich die Kinder entwickeln, müssen die Erzieher seit 2006 für jedes einzelne in einem Sprachlerntagebuch (SLP) festhalten (siehe Kasten). Stellen sie bei einem Kind Entwicklungsdefizite fest, bekommt es gezielte Förderung.

Dass dieses System gut funktioniert, davon ist SPD-Bildungssenatorin Sandra Scheeres überzeugt. „Die Einschulungsuntersuchungen zeigen: Kinder, die mehr als zwei Jahre in die Kita gehen, kommen mit einem besseren Sprachstand in die Schule“, lobte sie kürzlich bei einem Besuch in einer Schöneberger Kita.

Sprachdefizite bleiben

Das ist allerdings nur die halbe Wahrheit: Zwar zeigen die Einschulungsuntersuchungen tatsächlich, dass die Deutschkenntnisse von Kita-Kindern besser sind als von Nicht-Kita-Kindern und mit der Dauer des Kita-Besuchs zunehmen. Sie zeigen auch, dass sich in den letzten zehn Jahren die Deutschkenntnisse von ndH-Kindern deutlich verbessert haben.

Auf der anderen Seite hat sich der Anteil von Kindern mit „Sprachdefiziten“ seit 2005 nicht verändert. Die Sprachentwicklung wird bei der Einschulungsuntersuchung durch verschiedene Tests ermittelt: Die Kinder sollen Quatschwörter nachsprechen, Wörter ergänzen, den Plural bilden, zusätzlich beobachten die Ärzte ihre Artikulation. Bei diesen Tests hat seit Jahren fast jedes vierte Kind (23,4 Prozent) Auffälligkeiten – rund 9 Prozent der deutschen und 47 Prozent der ndH-Kinder.

Zwar werden die Werte auch hier besser, wenn man die Kita-Besuchsdauer mit betrachtet: Aber auch 19 Prozent der Kinder, die länger als zwei Jahre in die Kita gehen, haben Sprachdefizite – fast jedes fünfte Kind. Besonders alarmierend ist, dass dies weiter vor allem ein soziales Problem ist: Rund 50 Prozent der Kinder aus der „unteren Statusgruppe“, wie das bei den Einschulungsuntersuchungen heißt, haben sie und 19 der „mittleren“ – aber nur 7 Prozent der „oberen“.

Experten wundert das nicht. An der Qualität der Sprachförderung in den Kitas sei einiges verbesserungsfähig, sagen sie. Christa Preissing etwa sieht ein sehr „heterogenes Bild“. Sie war 2004 die Hauptautorin des BBP und ist heute Leiterin des Kita-Instituts für Qualitätsentwicklung, das die externe und interne Evaluation des Programms steuert. Für Preissing ist nur ein Teil der gut 2.100 Berliner Kitas „richtig gut“ – unter anderem jene 10 Prozent, die am Bundesprogramm „Frühe Chancen“ teilnehmen. Das Programm finanziert den Kitas für drei Jahre eine zusätzliche Stelle, die zur „Sprachförderkraft“ weitergebildet wird und ihr Wissen den Kollegen weitergibt. „In diesen Kitas wissen sie heute viel besser Bescheid, etwa über die Sprachaneignung von Kindern mit anderer Muttersprache“, sagt Preissing. Auch Yvonne Anders, Professorin für frühkindliche Erziehung an der Freien Universität, sagt, „dass die Qualität der Kitas und der pädagogischen Interaktionen in jedem Fall verbesserungsbedürftig ist“.

In den Kitas hat man vor allem mit dem Sprachlerntagebuch Probleme. „Das SLP ist sehr praxisfern und nichts für bildungsferne Kinder“, sagt Kita-Leiterin Fischer-Weituschat. So seien die Fragen der Bildungsinterviews viel zu schwer. In der Tat ist schwer vorstellbar, dass dreijährige Kinder die Frage beantworten können, was sie in ihrer Kita alles lernen oder was ihnen dort nicht gefällt. „Bisher hat sich mir die Sinnhaftigkeit dieses Buchs nicht erschlossen“, sagt die Kita-Leiterin. Umso gespannter sei sie auf die Überarbeitung, die zurzeit läuft.

Kostbare Zeit geraubt

■ Seit 2006 müssen die Erzieher für jedes Kita-Kind ein Sprachlerntagebuch (SLT) führen, das neben Informationen zum familiären Hintergrund zwei „Bildungsinterviews“ enthält sowie eine „Lerndokumentation“. Letzteres sind Beobachtungen zur motorischen und Sprachentwicklung.

■ Bislang konnten die Eltern das SLT am Ende der Kita mitnehmen und sollten es ihrer Grundschule übergeben, was in der Praxis aber kaum funktionierte. Ab kommendem Schuljahr sollen die Kitas den dritten Teil, die Lerndokumentation, selbst an die Schulen schicken – nach Intervention des Datenschutzbeauftragten aber nur, wenn die Eltern zustimmen. (sum)

Zudem beschweren sich viele Kitas, dass das SLP sehr zeitaufwendig in der Dokumentation sei – und kostbare Zeit mit den Kindern raube. BBP-Autorin Preissing hört solche Klagen häufig: „Das muss man ernst nehmen. Wir können nicht immer mehr Ansprüche stellen, ohne dafür auch Möglichkeiten zu schaffen.“

Womit man bei der Personaldebatte wäre. Wen man auch fragt – Elternvertreter, Kita-Träger, Pädagogen – alle sagen sie, die Ausstattung der Kitas mit Erziehern sei so knapp bemessen, dass gute Bildungsarbeit nur eingeschränkt stattfinden kann. Das Berliner Kita-Bündnis, ein Zusammenschluss von Gewerkschaften, Kita-Verbänden, großen Kita-Trägern und Elternvertretungen, fordert seit Jahren eine Verbesserung des Personalschlüssels.

Im Bereich der Unter-Dreijährigen etwa, erklärt Martin Hoyer, Kitaexperte des Paritätischen, forderten Wissenschaftler eine Fachkraft für drei Kinder, in Berlin seien es 1:5. Auf dem Papier. Aber wenn man Krankheiten, Urlaube und Fortbildungen dazuzähle, „sind es real nur noch 1:8“. Bei den älteren Kindern sieht es noch schlechter aus. „In einem Morgenkreis mit 18 Kindern, von denen ein Drittel nicht mitmacht, klappt Sprachförderung natürlich nicht so gut“, erklärt die Spandauer Kita-Leiterin.

Das gilt zumal für Einrichtungen, in denen die Mehrheit der Kinder eine nichtdeutsche Herkunftssprache hat und/oder aus einer sozial schwachen und damit potenziell bildungsfernen Familie kommt. Und ein großer Teil der nicht herkunftsdeutschen und armen Kinder geht genau in solche Kitas – weil sich arme und migrantische Familien eben in bestimmten Stadtgebieten konzentrieren.

Diese Einrichtungen bekommen dann pro nicht herkunftsdeutschem Kind einen Zuschlag: 0,017 Prozent einer Vollzeitstelle. Macht insgesamt eine volle Stelle auf rund 60 Kinder – oder den berühmten „Tropfen auf den heißen Stein“, wie BBP-Autorin Christa Preissing sagt.

An der knappen Personaldecke der Kitas wird sich jedoch so schnell nichts ändern. Es gebe „keine Pläne zur Änderung des Betreuungsschlüssels“ in dieser Legislaturperiode, erklärt Ilja Koschembar, Sprecher der Senatsbildungsverwaltung.