„Es ist so einfach, sich zu ernähren“

Ex-Hochspringerin Ulrike Nasse-Meyfarth spricht im taz-Interview über billiges und ungesundes Essen, eine merkwürdige Elterngeneration und die Probleme, übergewichtige Kinder für mehr Bewegung zu begeistern

taz: Frau Nasse-Meyfarth, sind Kinder und Jugendliche heute dicker als früher?

Ulrike Nasse-Meyfarth: Als ich in der Schule war, gab es das Phänomen noch nicht. Inzwischen gibt es viele Schlüsselkinder. Die sitzen zu Hause und sind passiv. Die Eltern leben das vor. Wir haben aktuell eine merkwürdige Elterngeneration.

Sind übergewichtige Kinder nicht eher ein Problem der sozial Schwachen?

Sie sind dicker, weil sie billigeres Essen zu sich nehmen. Dieses Fast-Food-Zeug macht dick. Fleisch und Gemüse ist erstens teurer und zweitens aufwändiger zuzubereiten.

Kommen nicht eher Mittelschichtskinder zu Ihrem Verein?

Leider. Der Mediziner und 10-Kämpfer Charles Ibe hat mal eine Gruppe an einer Hauptschule in Leverkusen angeboten, musste sie aber bald einstellen. Diese Kinder sind schwer zu erreichen und zu halten.

Gibt es psychische Ursachen von Übergewicht?

Ich bin keine Ärztin. Ich bin Sportlehrerin. Ein Junge in der „Schwer mobil“-Gruppe erzählte, dass er binnen kürzester Zeit seinen Vater und seinen Großvater verloren hat. Das muss ein kleiner Junge erst Mal verkraften. Seitdem hatte er wohl erst zugenommen. Ein anderer Junge in der Gruppe hat einen Gastwirt als Vater. Der Junge sitzt dann in der Gaststätte und isst vor lauter Langeweile. Andere Eltern müssen vermehrt zu zweit arbeiten gehen. Und alleinerziehende Mütter gibt es zuhauf. Es fehlt diesen Kindern an Struktur.

Wie funktioniert Ihre Gruppe?

In der Regel haben wir ganz harmonische Stunden. Die fünf Mädchen müssen sich erst einmal draußen eine Runde einlaufen. Das sind 900 Meter. Im Anschluss machen sie Gymnastik. Dann geht‘s an die kleinen Hürden. Die werden ganz nah aneinander gestellt. Da müssen die Kinder drüber steigen, auch seitlich. In der Laufschule zeigen wir verschiedene Gangarten. Die Kinder machen bei uns zunächst die Erfahrung, wie viele Möglichkeiten es gibt, sich zu bewegen.

Haben Sie durch ihre Erfolge einen besseren Zugang zu den Kindern. Quasi als Vorbild?

Die Kinder kennen mich zwar, aber das ist für die uninteressant. Die haben das nicht erlebt.

Wir reden von Kindern, die süchtig nach Essen sind. Aber kann Erfolg nicht auch süchtig machen?

Das ist ein Problem der älter werdenden Leistungssportler. Irgendwann müssen sie in die Normalität zurück. Besonders die Herren haben da Schwierigkeiten. Wenn man eine gute Berufsausbildung hat, ist das nicht so tragisch. Aber das haben die wenigsten.

Leistungssport ist doch genau so ungesund wie Übergewicht.

Ich hatte vor zwei Jahren einen Bandscheibenvorfall. Das ist relativ normal.

Zu Beginn Ihrer Karriere waren Sie wahrscheinlich nicht gerade dick?

Nein, ich war ein Spargeltarzan. Mit 14 war ich 1,80 Meter groß, mit 16 Jahren 1,86 und dann bin ich noch weiter gewachsen.

Und dann haben Sie sich gesagt: Ich spring nicht über die Latte, ich steige drüber.

So ungefähr. Inzwischen sieht man oft große Frauen. Aber früher als Jugendliche hatte ich Probleme mit meiner Körpergröße. Ich wurde gehänselt. Da war es gut für mich, ähnlich meinesgleichen im Sportverein zu finden. Basketball, Volleyball, Leichtathletik, da habe ich diese Menschen gefunden. Aber meine Eltern sorgten auch dafür, dass das Mädchen Sport macht, etwas auf die Rippen kriegt. Welche Eltern wollen das heute schon? Meine Mutter hat den Krieg erlebt. Diese Generation legte wohl besonderen Wert auf die Ernährung und Gesundheit ihrer Kinder. Viel Fleisch und Gemüse. Lebertran. Einreibungen mit Franzbranntwein. So etwas habe ich bei meinen Kindern nicht mehr gemacht.

Die Kinder in Ihrer Gruppe werden auch gehänselt, schämen sie sich?

Im letzten Jahr haben sich drei, vier Fernsehsender angekündigt und wollten unsere dicken Kinder filmen. Die haben sich aber geweigert, wären nicht gekommen.

Abnehmen tut auch weh.

Ja, das ist die Perversion dieser Gesellschaft, dass man viel Geld ausgeben muss um abzunehmen. Und andere Leute auf der Welt kriegen nichts zu essen. Wenn die ganze Fast-Food-Werbung über die Mattscheibe rollt, führt das doch weg vom gesunden Essverhalten.

Ein Werbeverbot für Süßigkeiten und Junkfood wäre in Ihrem Sinne?

Warum nicht? Es ist so einfach, sich zu ernähren. Viele Leute reißen sich um neue Produkte, haben aber den Geschmack für das Ursprüngliche verloren.

INTERVIEW: LUTZ DEBUS