Das Verwelken der Überflüssigen

Ein herausforderndes Stück, das die Landesbühne da in Auftrag gegeben und herausgebracht hat: Mit „Steppenglut“ liefert das engagierte Stadttheater Wilhelmshaven auch ein Argument wider die These, das deutsche Theater sei tot und die zeitgenössischen Autoren letztlich seine Mörder

Theater muss sich heutzutage an seinem Wirklichkeitsgehalt messen lassen, will es nicht zum Museum seiner selbst erstarren

VON JENS FISCHER

Das Kind heißt nicht „Kevin“. Sondern Lisa. Aber auch an ihrem Leben scheint niemand so recht Interesse zu haben. Der Vater verdrückt sich in seine kleine Lebensnische, die Schauspielerei. „Ich will dieses Scheißkind nicht“, brüllt Petri. Die Mutter verliert sich im Alkoholgenuss und setzt auf die Anziehungskraft ihres Körpers. Auch der dahingehend in aller Nacktheit angebaggerte Schriftsteller Palle, Mitte 40, hat keinen Blick für das Kind. „Voll mit dem Gerede“ seines bisherigen Lebens meint er zu wissen, „dass wir uns gegenseitig permanent eine heillose Überforderung sind“, träumt also vom entvölkerten Dasein, will in seiner wunden Egozentrik nur noch „Ruhe“. Auf dem Land hat Palle sich ein Häuschen mit Pool bauen lassen und schreibt einen „Roman über die selbst gewählte Form der Einsamkeit“. Da kann Klein-Lisa noch so schreien – auch Palles Nachbarin hat kein Ohr dafür. Diese Mirja mag sich hinter einer Maske aus Nettigkeit nicht eingestehen, dass ihre Flucht in die Romantik des Bäuerlichen genauso gescheitert ist wie ihre Ehe. Gatte Sascha, über 60 und das Resthaar immer noch zum Zopf gebunden, hasst „dieses dumme Wir aus dir und mir“ ebenso wie sich selbst.

„Steppenglut“ nennt sich diese bitterböse arrangierte Konstellation von Tine Rahel Völcker. Ihr Uraufführungsregisseur an der Landesbühne in Wilhelmshaven, Michael Blumenthal, nennt das Drama „auch eine Abrechnung mit der Alternativbewegung“. Ein Stück über die Generation taz. Über das Ausharren in gescheiterten Lebensentwürfen.

Und so ist auch weit und breit kein Sozialpädagoge, Arzt, verbeamteter Menschheitsbeglücker da, der sich dem gnadenlos missachteten Menschen im Kinderwagen annimmt. So dass das Kleinkind schließlich entsorgt wird – weil es die Ruhe der selbstbezüglichen Mitmenschen stört.

Ebenso ergeht es Sascha. Auch sein Genörgel stört nur. Den Entsorgungsdienst übernimmt ein Eindringling, der die Handlung voran- und durcheinanderbringt. Dieser Aribert spielt einen melancholischen Narren á la Shakespeare, befindet sich aber im freien Fall vom Tellerrand bundesdeutscher Wohlsituiertheit: job-, rat-, ziel-, partner-, obdachlos. Aber humorvoll. Auch ihn möchte man gern loswerden. In seiner sozialen, finanziellen und psychologischen Schieflage wird Aribert, der Mitstreiter aus der „tollen Zeit damals“ (Stichwort: „versiffte WG“), nur als Zumutung angesehen. Als solche legt Völcker die Figur auch an, als solche wird sie auch wieder aus dem Blickfeld der Stadtflüchtlinge gedrängt. Aribert hat in die Steppe hinauszuwandern, die das Handlungslabor des Stückes symbolisch umgibt, während Palle & Co., innerlich versteppt und Käutertee trinkend, weiterleben – in ihrem unglücklichen Bewusstsein.

Das ist schon ein herausforderndes Stück, das die Landesbühne da in Auftrag gegeben und herausgebracht hat, um es anschließend auf einer Tour durch Nordwest-Niedersachsen zu präsentieren. Mit „Steppenglut“ liefert das engagierte Theater auch ein Argument wider die These, das deutsche Theater sei tot und die zeitgenössischen Autoren letztlich seine Mörder. Theater muss sich heutzutage nicht an der Selbstreproduktion mit den Klassikern und Klassiker-Zertrümmerungen, sondern an seinem Wirklichkeitsgehalt messen lassen, wenn es nicht zum Museum seiner selbst erstarren will. „Steppenglut“ ist ein diskussionswürdiger Versuch, aktuelle Wirklichkeit für das Theater erzählbar zu machen – in einer Mischung aus sensiblem Realismus, ein Milieu zu charakterisieren, und der parabelhaften Zuspitzung gesellschaftlicher Entwicklung. Die Spannung entwickelt sich dabei aus einer Art Krimidramaturgie: überraschende Wendungen und eingeschobene monologische Enthüllungen.

Tine Rahel Völcker, Jahrgang 1979, ist Absolventin des Studiengangs „Szenisches Schreiben“ an der Universität der Künste in Berlin, war 2005/2006 Hausautorin am Nationaltheater Mannheim und hat für „Steppenglut“ ihren Kammerspiel-Stil deutlich mit Bezügen zum Werk Anton Tschechows aufgeladen. Da wie dort verwelkt eine überflüssig gewordene Gesellschaftsschicht auf ihren ländlichen Anwesen – auch wenn sich Völckers Personal die stilvoll-elegante Lebensironie der Tschechow-Menschen nicht mehr leistet, sondern in flirrender Haltlosigkeit nur noch das eigene Ich betüdelt.

Das Wandeln am Rande der Depression inszeniert Völcker sehr geschwind, was der Spannung gut tut. Die Mittel: rasante, geradezu filmisch geschnittene Abfolgen von wechselnden Szenen und kurzatmige, in den schnoddrigen Alltagston verdrehte Sätze, die sehr genau der Sprachlosigkeit der Figuren und der Banalität ihrer Beziehungen entsprechen.

Leider wird in Wilhelmshaven ignoriert, dass das Stück auf diese Art immer verwirrter und absurder wird. Regisseur Blumenthal hat die Vorlage zwar gekürzt, steigert auch die Darstellung bisweilen in die Karikatur oder ins Humoreske, um die Fragwürdigkeit ihrer Charaktere zu beleuchten, schafft aber nie eine schwungvolle Verdichtung, dehnt vielmehr das Spiel im Gleichmaß zur Elegie.

Aus dem nicht gerade überwältigenden Ensemble sticht Thomas Hary hervor, er weiß dem tragikomischen Balanceakt seines Ariberts intensive Momente abzugewinnen, die auch in der überdimensionierten Stadttheaterhöhle Wilhelmshavens funktionieren. Und so gehört diesem Schlawiner auch einer der beklemmendsten Momente der Aufführung. Er erzählt eine Geschichte, die Inhalt und Atmosphäre von „Steppenglut“ zusammenfasst: „Ich kannte mal einen Jungen, dessen Vater hat ihm ein Baumhaus gebaut und sich dann umgebracht. Den ganzen Sommer lang stand der Mann schweigend in der Garage und hat Bretter zugeschnitten. Dann war das Baumhaus fertig und wie ein Preisschild hing der Vater daran.“

Nächste Aufführung am 26. Januar um 20.00 Uhr im Stadttheater Wilhelmshaven, Virchowstraße 44 www.landesbuehne-nord.de