die taz vor elf jahren über große koalitionen und rot-grüne hoffnungen
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Waren bisher Große Koalitionen immer als Notlösung begriffen worden, beginnen sie zum Regelfall in der Bundesrepublik zu werden. Die CDU ist allen Inszenierungen um den Kanzler zum Trotz nicht mehrheitsfähig. Die SPD verliert nach allen Seiten, nach links zu den Grünen, nach rechts zu den Nichtwählern und nach Osten an die PDS. In ihrer ernstesten Krise seit Jahrzehnten regiert sie jedoch in so vielen Bundesländern wie noch nie zuvor. Während alle Welt über Schwarz-Grün spekuliert, Pizzaessen von Nachwuchspolitikern zu vorgezogenen Koalitionsverhandlungen aufbläst, ist der Marsch in eine schwarz-rote Zukunft der Berliner Republik unverkennbar – Berlin, Baden-Württemberg, Thüringen, Mecklenburg-Vorpommern. Es ist eine Zukunft in Zement. Die SPD verliert in Großen Koalitionen mehr als in jeder anderen Form der Regierungsbeteiligung. Da sie dabei aber regelmäßig mehr verliert als die CDU, schafft jede Große Koalition vorerst die Voraussetzung für ihre eigene Fortsetzung.

Wer in einer dieser Koalition die Mitte und wer Rechts macht, wird fallweise entschieden: Bei der inneren Sicherheit ist es die CDU, bei D-Mark-Nationalismus die SPD, die auf Rechts machen, während der jeweils andere staatstragend die Mitte abdeckt. Ob das der Marsch in eine schweizerische Unbeweglichkeit des Parteiensystems (20 Jahre Große Koalition) oder nur das Vorspiel für einen Crash dieses Systems ist, ist noch nicht ausgemacht. Große Koalitionen drohen zu einem Sperriegel für ökologisch-soziale Reformpolitik zu werden. Ökologischer Umbau braucht Mut. Schwarz-Rot jedoch beruht auf Kleinmut. Es wird bei den Wahlen im März 1996 in Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg und Schleswig-Holstein darauf ankommen, nicht nur gute Grünen-Ergebnisse zu erzielen. Entscheidend wird sein, was hinten rauskommt: Mehrheit für eine ökologisch-soziale Reformpolitik oder für schwarz-rotes Durchwursteln.

Jürgen Trittin am 4. 11. 1995