berliner szenen Schnelle Retter

Du nicht, Rudi!

Gerade als wir im Odeon unsere Eintrittskarten bezahlen wollen, wankt ein Mann mittleren Alters heran. Graues Jackett, Dreitagebart und ein bisschen bleich. Keuchend spricht er zur Kassiererin, er habe Atembeschwerden und Brustschmerzen, wahrscheinlich ein Herzinfarkt, man solle einen Notarzt rufen. Während die Dame hinter dem Tresen leicht genervt telefoniert, begleiten wir den Mann an die frische Luft. C. redet beruhigend auf ihn ein, „na, das wird schon wieder, die kommen bestimmt gleich!“, und schaut mich vielsagend an. Ich weiß, was der Blick bedeuten soll: „Du warst ja als Zivi beim Malteser Hilfsdienst!“ Allerdings hatte ich damals immer dieses „Notfall-Handbuch“ dabei. Kapitel „Reanimation“, wie ging das noch!? Fünfzehnmal Atemspende, zweimal Herzmassage, oder umgekehrt?

„Mir wird schwarz vor Augen“, stammelt der Mann im grauen Jackett. „Mir auch!“, denke ich. Da bremst mit quietschenden Reifen der Rettungswagen. Vorne springen zwei Sanitäter heraus, aus der Seitentür der Notarzt. Die Helfer streifen sich im Laufschritt Einweghandschuhe über, der Arzt blickt auf den Mann im grauen Jackett. Plötzlich bleibt er stehen und ruft: „Rudi! Nein! Dich nehme ich heute nicht noch mal mit!“ Die Sanitäter ziehen sich die Handschuhe wieder aus. „Nüschte!“, brüllt da jedoch der Mann in Grau. „Ihr MÜSST mich ja mitnehmen!“ Die Sanitäter ziehen sich nach ein paar Sekunden die Handschuhe wieder an, packen zu und befördern Rudi leicht unsanft in ihren Wagen. Der Notarzt knallt beleidigt die Seitentür zu. Ohne Blaulicht verschwindet das Gefährt im nächtlichen Stadtverkehr. C. schaut auf die Uhr und meint: „Wenn wir jetzt wieder reingehen, haben wir nur die Werbung verpasst.“

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