Italien fordert EU-Unterstützung an

FLÜCHTLINGE Italien rechnet mit 80.000 Flüchtlingen. Erstmals auch ägyptische Flüchtlinge auf Sizilien

2.000 Flüchtlinge aus Tunesien befinden sich noch auf der Insel Lampedusa

AUS ROM MICHAEL BRAUN

Italiens Regierung bemüht sich um eine Europäisierung der Flüchtlingskrise, die das Land mit der Ankunft von 4.500 Tunesiern auf Lampedusa in nur vier Tagen getroffen hat. Seit Montag werden zwar keine neuen Bootsanlandungen mehr gemeldet. Innenminister Roberto Maroni und Ministerpräsident Silvio Berlusconi erhöhten jedoch den Druck auf die EU, um Unterstützung aus Brüssel zu erhalten.

Berlusconi telefonierte mit EU-Ratspräsident Herman Van Rompuy und erklärte, dass es sich um einen Notfall handele, der „die ganze EU betrifft und entsprechend angegangen werden muss“. Van Rompuy habe zugesagt, das Thema baldmöglichst auf einem EU-Gipfel zu diskutieren, teilte die Regierung in Rom mit. Einen Termin für ein Gipfeltreffen gibt es aber bisher nicht. Auch die EU-Kommission wollte keine Stellung zu der Frage beziehen, wie die Flüchtlinge verteilt werden könnten. Der Sprecher der EU-Kommission, Michele Cercone, sagte dazu in Brüssel nur: „Ich bin nicht bereit, da ins Detail zu gehen.“ Derzeit ist eine Verteilung der Flüchtlinge auf andere EU-Staaten nicht möglich. Das Dublin-II-Abkommen legt fest, dass Asylbewerber bis zur Prüfung ihrer Anträge in dem Land bleiben müssen, in dem sie europäischen Boden betreten haben.

In Rom legte Maroni erstmals exakte Zahlen vor. Seit Mitte Januar, seit Ben Alis Sturz also, trafen auf Lampedusa 5.278 Flüchtlinge aus Tunesien ein, 4.500 allein seit dem vergangenen Mittwoch. Mehr als 2.000 von ihnen wurden mittlerweile in Auffanglager auf Sizilien und dem italienischen Festland geschafft, gut 2.000 aber befinden sich noch in dem am Sonntag wieder geöffneten Lager auf der Insel. Auf Sizilien landeten gestern auch erste Immigranten aus Ägypten. Maroni sagte, sollte sich die bisherige Entwicklung fortsetzen, sei die Ankunft von bis zu 80.000 Flüchtlingen innerhalb des nächsten Monats möglich. Gleich zwei Bootsunglücke trugen sich in den vergangenen Tagen zu. Tunesische Zeugen, die sich an Bord befunden hatten, berichteten, ihr Fischkutter sei auf hoher See von einem tunesischen Patrouillenboot gerammt worden und daraufhin in zwei Teile zerbrochen. Vierzig der 125 Passagiere seien mit hoher Wahrscheinlichkeit ertrunken. Ein weiteres Unglück mit fünf Toten und 17 Vermissten hat sich offenbar vor dem Hafen von Zarzis ereignet, als dort zwei kleine Boote miteinander kollidierten und kenterten.

Vor diesem Hintergrund begab sich Roms Außenminister Franco Frattini nach Tunis. Auf die im Vorfeld erhobene Forderung, italienische Beamte sollten in Tunesien auf dem Lande ebenso wie mit Schiffspatrouillen vor der Küste selbst die Kontrolle übernehmen, verzichtete er in seinem Gespräch mit dem Ministerpräsidenten Mohamed Ghannouchi völlig. Stattdessen probierte Frattini es mit Hilfsangeboten und stellte Soforthilfe von fünf Millionen Euro ebenso wie Kreditlinien von 158 Millionen Euro in Aussicht.

Die Grenzschutzagentur Frontex, die die Mitgliedsländer bei der Grenzüberwachung unterstützt und Einsätze koordiniert, signalisierte unterdessen ihre Einsatzbereitschaft. „Die Planungen für Aktionen laufen“, sagte der Chef der Agentur, Ilkka Laitinien. Frontex, die im Mittelmeer und an der griechisch-türkischen Grenze im Einsatz ist, stelle vor allem Hubschrauber und Boote sowie mobile Radaranlagen und Wärmebildkameras zur Überwachung zur Verfügung. Frontex ist auch in der Rückführung von Flüchtlingen tätig.

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