„Der radikale Islam ist keine totalitäre Gefahr“

Heute vor zwei Jahren wurde der Regisseur Theo van Gogh in Amsterdam von einem radikalen Islamisten ermordet. Die Reaktionen waren hysterisch, sagt der Publizist Ian Buruma und warnt vor der Ausgrenzung normaler Muslime

taz: Herr Buruma, Sie haben über den Mord an Theo van Gogh gerade ein Buch veröffentlicht. Was ist denn so schief gelaufen in den Niederlanden?

Ian Buruma: Ich bin mir nicht sicher, ob wirklich so viel schief gelaufen ist. Probleme mit dem radikalen Islam gibt es überall. Die Reaktionen in den Niederlanden waren deshalb so panisch weil zuvor der Irrglauben vorherrschte, dass die Ereignisse der Welt schon irgendwie an den Niederlanden vorbeiziehen würden, diesem kleinen, toleranten Land.

Die Reaktion war hysterisch?

Ja. Manche Leute haben einfach überreagiert. Das hat einem politischen Populismus Auftrieb gegeben, und vieles von dem, was Pim Fortuyn immer gesagt hatte, wurde dadurch zum Mainstream. Glaubt man den Meinungsumfragen, dann haben mehr als die Hälfte aller Holländer heute eine schlechte Meinung über den Islam: Damit sind sie Spitzenreiter in Europa.

Wie tolerant und liberal sind die Niederlande wirklich gegenüber ihren Einwanderern?

In Holland herrscht ein hoher Grad an Toleranz, den man auch als Gleichgültigkeit auslegen könnte. Das Problem ist nicht, dass die Gesellschaft nicht liberal wäre. Es ist nur schwieriger für einen Einwanderer, sich hier als vollwertiger Bürger akzeptiert zu fühlen, als anderswo. Man könnte die Niederlande mit einem Club vergleichen, in dem die alteingesessenen Mitglieder alle Regeln und Codes kennen. Sie haben nichts gegen Neulinge. Aber es ist sehr schwierig, ein Mitglied in diesem Club zu werden. Das liegt daran, dass die Idee von Staatsbürgerschaft und nationaler Identität in Holland auf einer kulturellen Vorstellung basieren, die allein in den Köpfen der Leute existiert – anders als in den USA, wo sie ein politisches Konzept sind, das auf der Verfassung beruht.

Sie sagen, der Islam sei heute eine europäische Religion. Aber Sie sehen auch gefährliche Bruchstellen, die sich bei diesem Thema durch ganz Europa ziehen. Wie optimistisch sind Sie, was die Zukunft betrifft?

Schwer zu sagen. Das hängt nicht nur von der europäischen Politik ab, sondern auch von dem, was im Nahen Osten passiert. Unglücklicherweise hat der revolutionäre Islam im Nahen Osten einen gewissen Einfluss auf die Muslime in Europa, und dieser Einfluss wird durch moderne Kommunikationsmedien wie das Internet verstärkt. Selbst wenn die Mehrheit der Muslime in Europa perfekt integriert wäre – und sehr viele sind es ja auch –, das Problem wäre weiterhin da.

Warum findet der radikale Islam aus dem Nahen Osten denn bei Muslimen im Westen überhaupt einen Widerhall?

Natürlich hat die Mehrheit hier ganz andere Probleme. Aber wie bei allen Bewegungen im Namen einer großen Sache spricht auch der revolutionäre Islam junge Leute an, die sich entwurzelt fühlen und in ihrem Leben nach einem Sinn suchen. Junge Leute überall auf der Welt waren schon immer empfänglich für revolutionäre Versuchungen, die persönliche Opfer verlangen. Die meisten Minderheiten in Europa haben kein solches Ziel, dem sie sich anschließen können. Aber die Muslime haben so eines.

Halten Sie den radikalen Islam für eine totalitäre Gefahr?

Nein, das denke ich nicht – vielleicht für manche Länder des Nahen Ostens, aber nicht in Europa. Die Gefahr in Europa ist vielmehr der Terror und die Gewalt, die – wie man am 11. 9. gesehen hat – die westlichen Länder heimsuchen kann. Solche Gewalt kann Gesellschaften aus der Bahn werfen, extreme Reaktionen nach sich ziehen und enorme Spannungen hervorrufen.

Die Angst, dass sich westliche Gesellschaften durch die muslimische Immigration dramatisch verändern könnten, ist also unbegründet?

Das halte ich für gnadenlos übertrieben. So groß ist die Einwanderung nun auch wieder nicht. Und es setzt voraus, dass kommenden Einwanderergenerationen genauso schlecht integriert sein werden wie die vor ihnen. Wir können nur hoffen, dass dies nicht der Fall sein wird.

Wie hat man in den Niederlanden auf Ihr Buch reagiert?

Die meisten Besprechungen waren positiv. Die negativen Reaktionen kamen vor allem aus einem bestimmten politischen Lager. Überall auf der Welt gibt es Leute, die früher zur Linken gehörten und die es nun als ihre Aufgabe begreifen, das, was sie für die „Werte der Aufklärung“ halten, gegen den Islam zu verteidigen. Manche dieser Leute haben mir vorgehalten, ich sei naiv und zu weich gegenüber dem Islam. Man kann den radikalen Islam natürlich für eine gefährliche Bewegung halten, die nicht unterschätzt werden sollte. Meiner Meinung nach wird die Situation jedoch durch die Ausgrenzung der moderaten Muslime angeheizt.

Sie werfen Leuten wie Leon de Winter, Paul Scheffer oder Ayaan Hirsi Ali vor, dass Sie im Namen der Aufklärung eine neue, konservative Ordnung beschwören. Kann es denn so etwas wie einen Fundamentalismus der Aufklärung geben?

Alles kann in ein Dogma verwandelt werden, sogar die Aufklärung. Es kommt darauf an, was man darunter versteht. Das passiert ja in den Händen gewisser Neokonservativer, die versuchen, die amerikanische Demokratie mit Gewalt zu exportieren.

Warum sind so viele Leute, die sich mal für Linke hielten, gerade in der Integrationsdebatte nach rechts gerückt?

Zum Teil, weil sie den Glauben an frühere Überzeugungen verloren haben. Zum Teil aber auch aus einem Hang zum Dogmatismus heraus. Leute, die diesen Hang haben, können aus Desillusionierung zu einem anderen Glauben wechseln, den sie dann mit dem gleichen Eifer vertreten. Man muss auch bedenken, dass die radikale Linke der Sechziger- und Siebzigerjahre nicht für eine liberale Politik gestanden hat – sie war in vielerlei Hinsicht sogar antiliberal und dogmatisch. Jemand wie Paul Scheffer hätte sich, als Mitglied der Kommunistischen Partei, niemals als liberal bezeichnet.

Welche Rolle spielt jemand wie Ayaan Hirsi in der Debatte?

Sie bestätigt die Ängste und Vorurteile, die viele Leute gegenüber den Islam haben. Nicht alles, was sie sagt, ist falsch, vieles ist richtig. Aber auch sie ist ein Beispiel für jemanden, der seinen Glauben verloren hat und der nun mit dem gleichen Eifer das Gegenteil vertritt.

Ihr Buchtitel spricht von den „Grenzen der Toleranz“: Wo würden Sie die ziehen, etwa in der Kopftuch-Debatte?

Ich bin gegen Verbote. Aber ich sympathisiere auch mit Leuten wie Jack Straw, dem ehemaligen britischen Außenminister, der es kritisiert, wenn Frauen ihr Gesicht verschleiern, wenn sie im öffentlichen Leben stehen. Ich denke, es ist falsch, dogmatisch zu sein.

So wie in Frankreich, wo an den Schulen ein absolutes Kopftuch-Verbot gilt?

Ja, das würde ich nicht imitieren wollen.

Auch wenn es kleine Mädchen gibt, die unter das Kopftuch gezwungen werden?

Das mag es geben. Aber alle kleinen Kinder werden von ihren Eltern zu allen möglichen Sachen gezwungen. Ich denke, der Staat sollte sehr vorsichtig sein, in welche Dinge er sich einmischt. Das Kopftuch wird oft genug aus freien Stücken getragen. Und je mehr Muslime in Europa das Gefühl haben, dass die Mehrheit etwas gegen sie hat, desto mehr werden ein Kopftuch tragen: aus Trotz.

INTERVIEW: DANIEL BAX