Vida geht weiter, der Rest auch

BRASILIEN Die Medien inszenieren Pannen, Jubel und Trauer. Aber die Brasilianer selbst sind eigentlich nur wütend – bestenfalls genervt. Es war eine gute WM, aber es war nicht die WM der Menschen in Brasilien

AUS RIO DE JANEIRO ANDREAS BEHN

Bei jedem holländischen Tor kam Jubel auf. Aber kein richtiger Jubel, sondern hämischer. Vielleicht 40 Leute schauten das Spiel in der etwas heruntergekommenen Kneipe, alle waren natürlich für Brasilien, aber nur einer kam mit gelbem T-Shirt. Nach dem 2:0 begannen vier Männer, Karten zu spielen. Es wirkte nicht einmal demonstrativ.

Die WM interessiert nicht mehr, aber nicht, weil das 1:7 gegen die Deutschen so traumatisch gewesen wäre. Vielmehr wird jetzt noch deutlicher, dass es von Beginn an gar nicht ihre WM gewesen ist, besser gesagt: seit Juni 2013, als die Protestwelle vieles erschütterte. Auch das Selbstbild der Brasilianer.

Es gab keine richtige Begeisterung, viel weniger geschmückte Straßen als sonst, und am meisten wunderten sich die Brasilianer selbst darüber. Sie feierten die Mannschaft, obwohl sie wussten, dass ein einziger Neymar es nicht reißen wird – aber aus vollem Herzen kam die Unterstützung nicht.

Präsidentin Dilma Rousseff hatte vorher gesagt, dass das, was in den Stadien passiert, keine Auswirkungen auf die Politik haben werde. Das gilt für den Sport, aber nur für ihn. Für die Stadien, deren künftige Nutzung unklar ist, gilt das nicht. Und für die nicht gebauten Verkehrsprojekte und die verfehlte Stadtplanung gilt es erst recht nicht.

Auch das Sicherheitskonzept, das angeblich so gut funktioniert hat, kann noch zum Bumerang werden. In Bezug auf die Proteste – und das war neben gelegentlicher Fanrandale der einzige brisante Aspekt – gab es keine Sicherheit, sondern ausschließlich Repression. Allein in Salvador sind über 45 Menschen bei kleinen Protestaktionen festgenommen worden, obwohl es alles andere als ein Protestzentrum war. Und in Rio de Janeiro wurden 48 Stunden vor dem Finale 19 Menschen in Vorbeugehaft genommen, 7 weitere werden gesucht. Amnesty International bezeichnete diese Maßnahmen als „besorgniserregend, da es ein weiterer Akt der Einschüchterung“ sei und das Recht auf Meinungsfreiheit einschränke.

Nach dem Debakel steht im In- und Ausland geschrieben, dass Brasilien trauert und vor einem neuen Trauma steht. Doch die Brasilianer sagen viel mehr „to nem aí – was geht mich das an?“

Es war keine schlechte Weltmeisterschaft, im Gegenteil. Aber der Gastgeber war mit sich selbst beschäftigt, und es ist ihm hoch anzurechnen, dass er nicht aus dieser Rolle gefallen ist. Deswegen ist 2014 auch nicht eine Neuauflage des Traumas von 1950, als die Seleção im WM-Finale 1:2 gegen Uruguay verlor. Vielmehr relativiert das 7:1 das Trauma, denn damals hatte Brasilien sehr gut gespielt. Vielleicht könnte es sogar zur Überwindung des Traumas beitragen, denn statt einem Minderwertigkeitskomplex steht jetzt Handeln an: So wie es jetzt ist, soll es weder im Fußball noch in vielen anderen Bereichen der Gesellschaft weitergehen! Das Aufbruchssignal waren die Demonstrationen im vergangenen Jahr, die WM nur ein Moment auf diesem Weg.