die taz vor 10 jahren über den lübecker brandanschlag
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Die Veranstalter der Demonstration, zu der in Berlin zwei Tage nach dem Lübecker Brandanschlag aufgerufen worden war, lösten das Problem der „Nachrichtenlage“ auf ingeniöse Weise: Sie verzichteten auf jede Rede und forderten die Teilnehmer der abschließenden Kundgebung dazu auf, der Opfer drei Minuten lang schweigend zu gedenken. Dieser Weg steht der taz naturgemäß nicht offen. In ihren Kommentaren stellte die taz die Verantwortlichkeit derer heraus, die durch ihre Kampagne gegen das Asylgrundrecht dem Terrorismus zur legitimatorischen Grundlage verholfen hatten. In unserer Berichterstattung betonten wir, daß „die Hinweise auf vorsätzliche Brandstiftung mit ausländerfeindlichem Hintergrund kaum zu übersehen“ wären. Das verhielt sich in der Tat so. Wir unterließen es allerdings – wie fast alle anderen Medien –, auch nur die Möglichkeit zu erwägen, daß der Anschlag Resultat einer Auseinandersetzung zwischen Gruppen von Asylsuchenden sein könnte. Und diese Möglichkeit lag so fern nicht, wenn man bedenkt, welcher Mangel an Sensibilität gegenüber den kulturellen wie politischen Unterschieden zwischen den Asylsuchenden bei den bundesdeutschen Behörden vorherrscht. Sicher drückt sich in dieser Einseitigkeit der Berichterstattung noch etwas vom Mythos des „guten Ausländers“ aus, der einfach unfähig sei, eine Tat zu begehen, die in der Dramaturgie vieler Linker ausschließlich für Neofaschisten reserviert ist. Bei jedem neuen Brandanschlag wird auch die taz vor dem gleichen Dilemma stehen: Erfahrung wie Emotionen drängen zu einer raschen Verortung des Verbrechens in der rassistischen Szene auch dort, wo die Indizienlage ein simples Verbrechen „ohne politischen Hintergrund“ nicht ausschließt. Halten wir es künftig mit dem großen spanischen Moralisten des 17. Jahrhunderts, Gracián: „Zu prüfen verstehen: Die Aufmerksamkeit des Klugen wetteifre mit der Zurückhaltung des Vorsichtigen.“ Christian Semler, taz, 23. 1. 1996