„Lula ist nur ein mittelmäßiger Präsident“

Brasilien hat den Linken Lula wiedergewählt und mit viel politischer Macht ausgestattet. Doch eine andere Wirtschaftspolitik wird es auch in der zweiten Amtszeit von Lula nicht geben, so der Soziologe Francisco de Oliveira

taz: Herr Oliveira, wird Lula nach seiner klaren Wiederwahl spürbare Wirtschafts- und Sozialreformen in Angriff nehmen?

Francisco de Oliveira: Kaum. Die Wirtschaftspolitik ist unantastbar, für einen Kurswechsel fehlt ihm die politische Kraft. Vielleicht gibt es auf sozialem Gebiet Fortschritte. Deswegen habe ich ihn jetzt auch wieder gewählt. Aber ich bin skeptisch, vor allem wegen der Schwäche der Linken.

Aber die Forderung nach Zinssenkungen, nach einer „Entwicklungswende“, geht weit über die Linke hinaus.

Ja, doch Lula hat bereits klargestellt, dass es dazu nicht kommt.

Ist sein moderater Diskurs vielleicht Taktik?

Nein. Anfang 2003 haben auch viele gehofft, das wäre Taktik, um in den ersten Monaten den Konflikten aus dem Weg zu gehen, aber im Verlauf seiner Amtszeit hat sich das als Strategie herausgestellt. Jetzt passiert dasselbe – es wird keinen Kurswechsel in der Wirtschaftspolitik geben. Die Zinsen sinken seit einiger Zeit langsam, und das bei einer sehr guten Weltkonjunktur. Wenn sich das ändert, mit einer Rezession in den USA oder wenn Chinas Wachstumsraten einbrechen, dann bedeutet das für Brasilien als großem Rohstoffexporteur Turbulenzen, und dann werden Reformen völlig unmöglich.

Sie haben Lula im ersten Wahlgang nicht gewählt. Warum?

Ich wollte, dass die Kritik von links stärker wird. Die Alternative – die Partei für Sozialismus und Freiheit – war schwach, aber immerhin gab es dadurch einen Raum für Kritik.

Warum tut sich die Linke heute so schwer, den Diskurs in Brasilien mitzubestimmen?

Zwei Jahrzehnte lang hat die Linke der Gesellschaft die Richtung vorgegeben, schon in der Endphase der Diktatur in den 80ern. Gefordert wurden Demokratisierung, Sozialreformen, eine nachhaltigere Wirtschaftsweise. Tragisch ist, dass Lula zum Boten dieser Forderungen wurde, damit hat er die Linke eingefangen. Es ist ein Volksmythos entstanden. Heute übertrifft Lula die Stärke der brasilianischen Linken an den Urnen und im Diskurs bei weitem, inner- und außerhalb der PT. Es ist paradox: Er hat mit den Stimmen jener Linken gewonnen, die ihn verlassen hatten, mit diesem Sieg stärkt er seine charismatische Position, wodurch die Politik annulliert wird.

Viele trösten sich mit seiner Außenpolitik, der Aufnahme Venezuelas in den Mercosur, der Schaffung eines gewissen Gegengewichts zu den USA.

Das ist viel Rhetorik dabei. Die USA fassen Lula mit Samthandschuhen an. Hugo Chávez versucht Venezuela in Südamerika zu integrieren, um es überlebensfähig zu machen. So finanziert Venezuela eine Raffinerie im brasilianischen Bundesstaat Pernambuco. Natürlich hat Lula das nicht bekämpft, aber er ist auch nicht dafür verantwortlich.

Wie beurteilen Sie Lulas Bolivienpolitik?

Auch die wäre unter einem rechten Präsidenten kaum anders. Schließlich macht der Staatsbetrieb Petrobras 15 Prozent von Boliviens Bruttoinlandsprodukt aus. Aber der Petrobras-Vorsitzende hat die bolivianische Regierung wegen der Nationalisierung so hart attackiert, dass der Präsident persönlich das zurechtrücken musste. In Brasilien oder Ecuador verhält sich die Petrobras wie jeder beliebige imperialistische Konzern.

Hat die PT, die lange als „Linkspartei neuen Typs“ gefeiert wurde, etwas aus den Korruptionsaffären der letzten Jahre gelernt? Manche fordern eine „Neugründung“ der Partei …

Es gibt einen Satz aus Spanien oder Frankreich: „Die Bourbo- nen haben in den letzten 200 Jahren nichts vergessen und nichts gelernt.“ In etwa trifft das auch auf die PT zu. Sie hat nichts vergessen, aber auch nichts Neues gelernt. Außerdem hat die PT in Rio Grande do Sul, wo der kämpferischste Teil der Partei sitzt, wieder verloren. Auch das macht eine Neugründung der PT unwahrscheinlich. Sie wäre wünschenswert, und auch ich als Exmitglied drücke die Daumen, aber ich glaube es nicht.

Und wie geht es weiter mit seiner Partei?

Die PT hat den Anspruch verspielt, eine Kraft der Veränderung zu sein. Lulas erste Amtszeit war konservativ, es gab keine einzige Maßnahme zugunsten der Arbeiter.

Muss er mit Druck von sozialen Bewegungen rechnen?

Nein, es gibt keine Bewegungen, die sich mit anderen Linkskräften inner- und außerhalb der PT zusammentun könnten. Die Landlosenbewegung MST, auf die alle immer verweisen, ist an die Regierung gekettet, die ja die Dörfer der Kleinbauern finanziert. Die sozialen Bewegungen haben ihren Zenit überschritten, und unter Lula sind sie noch kraftloser geworden.

Düstere Aussichten also?

Nein, eher mittelmäßige, Lula wird seine mittelmäßige erste Amtszeit fortsetzen und letztlich wenig vorzuweisen haben.

INTERVIEW: GERHARD DILGER