IN DER NOTAUFNAHME
: Zusammenbrüche

Kaum berührt der Vater leicht ihre Hand, schreit die Tochter auf

Kurz vor dem WM-Finale gehe ich in die Urban-Notaufnahme, um empirisch zu überprüfen, wie viel Elend sich dort gerade stapelt im Vergleich zur Zeit nach dem Finale. Na ja, stimmt nicht ganz, aber ich staune, dass schon vor dem Finale großer Andrang herrscht, und bis nach dem Finale habe ich keine Lust zu warten, denn ich bin froh, als ich als unbedenklicher Fall gleich wieder gehen kann. So weit geht meine Liebe zur Empirie auch wieder nicht.

Die Notaufnahme ist wie immer ein Ort, in dem Erstaunliches geschieht. Ein verzweifelter Amerikaner ist mit seiner sechsjährigen Tochter und einem kleinen Fahrrad da. Die Tochter hält sich den Arm und weint. Der Vater nimmt sie in den Arm und versucht sie zu trösten, aber kaum berührt er nur leicht ihre Hand, schreit die Tochter auf. Offenbar ist sie mit dem Fahrrad gestürzt und hat sich den Arm gebrochen. Der Arzt aber kann nichts feststellen, und der Vater wird mit einem plötzlich froh gelaunten Kind wieder entlassen. Eine Türkin, die mir gar nicht aufgefallen ist, bricht auf ihrem Stuhl zusammen. Ein Mann schreit: „Ein Notfall! Ein Notfall!“ Ein Refugee geht, ohne sich anzumelden, in einen Behandlungsraum, legt sich auf ein Bett und stöhnt. Die Schwester sagt: „Wo kommst du denn her?“ Eine gut bürgerliche, ältere Dame ist in Begleitung ihrer Tochter und ruft bühnenreif: „Ich möchte meinen Anwalt sprechen! Und zwar sofort! Ich heiße Maria Callas, wohne in der Kreuzbergstraße 42. Ich möchte von den Vereinten Nationen gehört werden.“

Die Tochter zieht entschuldigend die Schultern hoch, weil es ihr peinlich ist. Ich finde, es muss ihr nicht peinlich sein, und lächle ihr aufmunternd zu, wobei ich nicht weiß, ob das überhaupt geht.

Ich sage zu einer Schwester, dass heute ja ganz schön viel los sei. „Ach, geht so. Heute bin ich noch nicht einmal angespuckt worden.“ KLAUS BITTERMANN