Die unkontrollierte Kontrollgesellschaft

Auf dem Weg in den Überwachungsstaat: Flammender Appell des Hamburger Datenschützers Lubomierski für den Schutz der Privatsphäre vor der Sammelwut von Behörden und Wirtschaft. Der beobachtungsfreie Raum werde immer enger

Von Sven-Michael Veit

Mit ungewöhnlich scharfen Worten hat der Hamburger Datenschutzbeauftragte Hartmut Lubomierski Politik und Wirtschaft aufgefordert, die Freiheitsrechte der Bürger zu achten. „Seit dem 11. September reißt die Kette der Erweiterungen, Verschärfungen und Neueinführungen von Kontrollen und Überwachungen, von Meldepflichten und Datenabgleichen nicht mehr ab“, schreibt er in einer Erklärung zum 1. Europäischen Datenschutztag am kommenden Sonntag. Dies sei „kein Tag zum Feiern“, erklärt Lubomierski. Seine „nüchterne Bilanz von mehr als 25 Jahren Datenschutz“ formuliert er so: „Wir sind auf dem Weg in die totale elektronische Erfassung des Menschen.“

Die Sammelwut des Staates und auch der Wirtschaft habe inzwischen solche Ausmaße angenommen, dass ein „Dammbruch beim Datenschutz“ drohe. Vor allem die „ausufernde Datenverarbeitung zu Sicherheitszwecken“, ergänzt Karsten Neumann, Datenschutzbeauftragter in Mecklenburg-Vorpommern, gefährde „die Balance zwischen Freiheit und Sicherheit“. Entsprechend lang ist die Liste der Kritikpunkte und der geforderten Gegenmaßnahmen, welche die Datenschützer zusammengestellt haben.

Sorge bereitet ihnen vor allem die Vorratsdatenspeicherung aller Telekommunikationsdaten, die Kontenüberwachung und die Übermittlung von Passagierdaten bei Flügen in die USA, genauso die zunehmende Einrichtung von zentralen Datenpools – Zentrales Schülerregister, Nationales Bildungsregister, Zentrales Steuerregister, Elektronische Gesundheitskarte oder auch die Job-Card.

Überhaupt nicht einverstanden ist Lubomierski auch mit den immer ausgefeilteren Überwachungsmethoden im öffentlichen Raum, wie sie in allen norddeutschen Bundesländern in Polizei- oder Sicherheitsgesetzen festgeschrieben wurden. Personenkontrollen ohne konkreten Verdacht auf eine Straftat, Datenabgleiche zwischen Polizei und Verfassungsschutz, die Videoüberwachung von Straßen, Plätzen oder Bahnhöfen ebenso wie in Kaufhäusern und selbst in Firmen, Schulen und Altenheimen „darf es nicht geben“, findet Lubomierski. Zwar mag jede einzelne Maßnahme „für sich betrachtet weitgehend begründbar“ sein, räumt er ein, „in der Summe aber“ würden die Menschen mit einer „allgegenwärtigen Kontroll- und Überwachungsstruktur“ überzogen: „Der beobachtungsfreie Raum“, so sein Fazit, „wird immer enger.“

Das Recht des Einzelnen, sich im öffentlichen Raum unbeobachtet bewegen zu können, müsse wieder hergestellt werden. Als Beispiel führt er die Videoüberwachung auf dem angeblichen „Kriminalitätsschwerpunkt“ Reeperbahn an: Die Hamburger Innenbehörde plant eine Ausweitung, obwohl die bereits existierende Beobachtung noch nicht „ergebnisoffen überprüft worden“ sei.

Nach vorläufiger Auswertung habe sich jedoch ergeben, dass sehr viel mehr Straftaten als zuvor jetzt in den unbeobachteten Nebenstraßen begangen werden. „Die Videoüberwachung führt zur Verdrängung der Kriminalität“, schließt Lubomierski daraus, „nicht aber zu ihrem Wegfall.“

Auch von der Wirtschaft verlangt er, auf ein Kredit-Scoring ohne Offenlegung der Datenbasis und der Berechnungsgrundlagen zu verzichten. Telefonwerbung dürfe nicht ohne Einwilligung der Betroffenen erfolgen. Außerdem müsse allen Bürgern ein anonymer Internetzugang ermöglicht werden.

Mächtig gekracht hatte es bereits Ende vorigen Jahres in Schleswig-Holstein. Damals hatte der Datenschützer des Landes, Thilo Weichert, die Einführung einer Anti-Terror-Datei massiv kritisiert. „Der Rechtsstaat“, warf er Innenminister Ralf Stegner (SPD) vor, „befindet sich auf einer abschüssigen Bahn.“ Vor allem des Ministers Pläne zur Ausweitung der Videoüberwachung in der Öffentlichkeit und eine „präventive Telekommunikationsüberwachung“ lehnte Weichert entschieden ab.

„Im Zweifel muss sich der Innenminister für die Gefahrenabwehr und den Opferschutz entscheiden“, beschied Stegner damals kühl. „Auffassungen, wir würden immer mehr zu einem Überwachungsstaat, sind aber grundfalsch“, behauptete er. Und Weichert unterstellte er, „das Recht auf freie und ungestörte Verbrechensausübung“ verteidigen zu wollen.

Aus vergleichbaren Gründen warf zuvor bereits der niedersächsische Datenschutzbeauftragte Burckhard Nedden das Handtuch. Der als Hardliner berüchtigte CDU-Innenminister Uwe Schünemann sei ein „sicherheitspolitischer Überzeugungstäter“, befand Nedden und verzog sich in den vorzeitigen Ruhestand.

Gar Friedhofsruhe befürchtet inzwischen Lubomierski. Von den Sicherheitsfanatikern werde gezielt „ein Klima der Alltäglichkeit der Beobachtung und der Gewöhnung an Überwachung“ geschaffen. „Dagegen müssen wir uns wehren“, sagt er, „sonst führt der Weg in eine Überwachungsgesellschaft.“