berliner szenen Wärme für den Kopf

Bonsoir, Absinth!

Einer dieser Abende, an denen man plötzlich wieder furchtbar gern zu Hause ist. Die Verlockungen der Häuslichkeit: eine warme Decke, einige ungelesene Zeitungen, viele ungelesene Bücher – und „Funny Games“ von Michael Haneke sollte ich auch endlich mal gucken. Daniel will den bestimmt bald mal zurückhaben.

Stattdessen: Mütze auf, Handschuhe an, ab aufs Rad. Der Sattel ist nass. Die Straße auch. Nieselregen. Sibirischer Wind. Die wenigen Menschen, an denen ich vorbeirausche, sehen verloren aus wie aus dem sommerlichen Paradies Vertriebene. Gegen solche Herbstabende sind selbst die erloschen am Wegesrand stehenden Heizpilze machtlos.

Der Spiegelsaal im Ballhaus Mitte scheint eigens für den Herbst gebaut zu sein. Die brüchigen Wände sehen aus wie mit Laub von Berliner Straßen abgerieben. Verstaubte Spinnweben hängen von der Decke. Man kann sie so gut erkennen, weil sie angestrahlt sind. Sie sind echt – und Kulisse. „Bonsoir Tristesse“, nennt sich der schwermütige Abend, zu dem Radio Eins seine Hörer eingeladen hat. Schwarz gekleidet sitzen sie an weiß gedeckten Tischen. Absinth wird ausgeschenkt, die warme Decke für den Kopf. Das Akustik-Set von Robin Proper Sheppard ist zum Heulen schön. Gewärmt vom Absinth und in Melancholie gekuschelt, schläft eine Frau an der Schulter ihres Freundes. Der DJ spielt Tom Waits.

Irgendwann gehe ich einfach. Der iPod bleibt aus. Am Weinbergsweg kratzt jemand sein Auto vom Eis frei. Auf der Kastanienallee brennt noch Licht. Wie immer. Wie beruhigend. Dem Winterspeck gönne ich noch eine Currywurst. Mit Pommes. Sie schmeckt welk. Weiter nach Hause. Unter die warme Decke. Die Nachrufe-Seite im Tagesspiegel lesen. DAVID DENK