„Ich werde mich weiter einmischen“

Bruno Flierl

„Die Selbstarchivierung ist ein komischer Vorgang.Man muss alles, was man produziert hat, neu ansehen.Ich habe zum Beispiel nie systematisch abgelegt.Ich habe aber auch nichts weggeworfen“„Ich bin meinen Kindern erst dann ein wirklicher Vater geworden, da sie sich selbst in der Welt umschauten.Da bin ich ihr Freund geworden. Und sie wurdenmeine Freunde, Tochter und Sohn“

Er war der bekannteste Architekturkritiker der DDR. Er wollte bessere Wohnungen und menschenfreundliche Städte. Damit eckte er an, bis er von der SED zum Konterrevolutionär erklärt wurde. Danach folgte der Zusammenbruch. Bruno Flierl hat ihn weggesteckt, wie vieles in seinem Leben. Und er hat weitergemacht, auch nach der Vereinigung. Zu seinem 80. Geburtstag am kommenden Freitag hat der Vater von Exkultursenator Thomas Flierl sein Arbeitsleben archiviert. Mit der taz spricht er auch über die Dinge, die nicht in seiner Arbeitsbiografie stehen, die in diesen Tagen unter dem Titel „Kritisch Denken für Architektur und Gesellschaft“ erscheint

Interview UWE RADA

taz: Herr Flierl, wie haben Sie den heutigen Tag verbracht?

Bruno Flierl: Ich habe gearbeitet. Ich habe eine Karte gezeichnet, eine Weltkarte mit den Orten, in denen ich seit den späten 80er-Jahren gewesen bin, um mir Hochhäuser anzuschauen.

Hochhäuser sind eines ihrer Themen.

Schon lange vor der Wende war das so. Ich konnte ja schon seit 1984 in den Westen reisen, nachdem ich frühverrentet wurde. Nach London, Paris und New York. Das habe ich heute alles auf eine Karte gezeichnet.

Sie werden am 2. Februar 80 Jahre alt …

Ja.

und sind gerade mittendrin, die Bilanz Ihres Arbeitslebens zu ziehen. Wie fühlen Sie sich dabei?

Merkwürdig. Diese Art von Selbstarchivierung, das ist ein komischer Vorgang. Man muss sich begegnen können, die Neugier und den Mut haben, alles, was man produziert hat, aufzuarbeiten und dabei neu anzusehen. Ich habe zum Beispiel nie systematisch abgelegt. Ich habe aber auch nichts weggeworfen. Also musste ich finden.

Gab es auch Entdeckungen, bei denen Sie dachten: Das ist mir peinlich?

Mein Hauptthema als Architekt und Architekturtheoretiker waren die Beziehungen zwischen Architektur und Gesellschaft. Die wollte ich klären, da wollte ich eingreifen. Peinlich ist mir daran nichts, außer vielleicht, dass auch ich die Sprache benutzt habe, in der man sich seinerzeit über diese Dinge verständigt hat. Ich bin aber auch Illusionen aufgesessen, zum Beispiel der, dass der reale Sozialismus dauerhaft sei und sich verfestigen würde. Dass er der praktische Beweis sei für die Überlegenheit gegenüber dem Kapitalismus.

Das sehen Sie heute anders?

Rückblickend sage ich, da gab es schon Ansätze. Aber insgesamt war er eine Utopie, eine große weltgeschichtliche Pariser Commune.

Sie gelten nicht wenigen als einer der bedeutendsten Architekturkritiker der DDR. Sie hatten eine einflussreiche Position im Institut für Städtebau und Architektur der DDR-Bauakademie und waren eine Zeitlang Chefredakteur der Architekturzeitschrift der DDR. Sie haben nach der Wende gegen den Wiederaufbau des Stadtschlosses gekämpft. Nun haben Sie ihre Arbeitsbiografie geschrieben, die unter dem Titel „Kritisch Denken für Architektur und Gesellschaft“ erscheint. Andere, die auf ein ebenso reiches Leben zurückblicken können, schreiben Autobiografien.

Ich wollte immer eine Autobiografie schreiben. Das sollten aber nicht die üblichen Memoiren werden. Ich hatte vielmehr vor, eine Berichtsstruktur zu meinem eigenen Leben zu verfassen und theoretische Überlegungen und Beobachtungen zur Gesellschaft damit zu verknüpfen. Ich wusste aber nicht, wie ich in diesem großen Komplex meine Arbeitsergebnisse hätte angemessen unterbringen sollen. So habe ich die Flucht nach vorne angetreten und zuerst darüber geschrieben.

Weil ihr Leben Arbeit ist und sonst nichts?

Nein, aber die Arbeit stand immer im Zentrum. Die Arbeit war für mich nicht Dienstleistung, sondern kreative Erkenntnis. Das Ziel war immer, das Leben der Menschen zu verbessern.

Und ihr eigenes Leben? Persönliche Erlebnisse kommen in Ihrer Arbeitsbiografie kaum vor. Die große Ausnahme ist die Zäsur 1982.

Damals war ich ausgegrenzt worden. Ich hatte mit meinen Vorschlägen die herrschenden Verhältnisse kritisiert. Das haben sich die führenden Leute in der DDR verbeten. So wurde ich zum Staatsfeind und Konterrevolutionär erklärt.

Damals hatten Sie einen Schlaganfall. Was hat das bei Ihnen verändert?

Dass die eigenen Leute mich ausgegrenzt haben, habe ich psychisch schlecht vertragen. Ich habe es verdrängen wollen. Aber die Physis war so angeschlagen, dass sie nicht mehr bereit war, das mitzumachen.

Haben Sie Angst vor dem Tod?

Ich habe Angst davor, dass ich zu früh sterben könnte, weil ich noch vieles vorhabe. Aber philosophisch gesehen habe ich vor dem Tod eigentlich keine Angst, weil ich den Tod als Naturereignis des Lebens auch denken kann. Wie es dann im Erlebnis sein wird, also beim Sterben, das ist eine andere Frage. Ich hoffe, nicht in der körperlichen Verelendung.

Der Tod ist Ihnen nicht nur 1982 begegnet, als Sie ihm von der Schippe sprangen. Er ist Ihnen auch begegnet bei der Geburt Ihres Sohnes Thomas. Damals starb ihre Frau.

Dass eine 25-jährige Frau stirbt und ich mit zwei Kindern alleine bleibe, war ein ungeheuerliches Erlebnis für mich. Ich habe auch diesen Einbruch – ebenso wie die politischen Ereignisse, wenn sie mir nicht gepasst haben – durch Arbeit und Anstrengung auf ein Ziel hin verdrängt. Zum Glück hatte sich meine Mutter mit großem Engagement der beiden Kinder angenommen. Das Verdrängen hat aber auch negative Folgen.

Welche?

Zum Beispiel, dass ich nicht gezwungen war, die Entwicklung und Betreuung meiner Kinder als Hauptaufgabe zu sehen. Ich konnte es mir leisten, intensiv weiterzuarbeiten. Das war beruhigend und schuf mir Freiheit. Für die Kinder aber war es nicht immer zum Besten.

Der Schauspieler Erwin Geschonnek hat seinem Sohn Matti einmal gesagt, er sei sein später Vater gewesen. Waren Sie auch ein später Vater?

Ich bin meinen Kindern erst dann ein wirklicher Vater geworden, da sie sich selbst umschauten und nach Orientierung in der Welt suchten. Da bin ich ihr Freund geworden. Und sie wurden meine Freunde, Tochter und Sohn. Damals haben sie auch aufgehört, mich Vater zu nennen. Ich war Bruno.

Hat Ihnen Ihr Freund Thomas je vorgeworfen, dass Sie ihm zu wenig ein Vater waren?

Mein Sohn Thomas hat natürlich ganz unbewusst ein Trauma wegbekommen. Er hat keine Mutter gehabt. Seit einigen Jahren ist er deshalb mit Eifrigkeit dabei, alles zu erfahren, was da war, und das auch zu dokumentieren. Er will sein früheres Leben begreifen, als er selbst noch nicht danach gefragt hat.

In der Aufarbeitung sind Sie mit Ihrem Sohn auch dorthin gefahren, wo Sie herkommen – nach Schlesien. Sie sind in Bunzlau geboren, aber in Breslau aufgewachsen. Auch das etwas, das in Ihrer Arbeitsbiografie …

… nicht drin ist, das stimmt.

Über Flucht und Vertreibung wird hierzulande viel geredet. Sie wollen sich daran nicht beteiligen?

Ich habe meine Heimat in Berlin gefunden. Hierher kam ich nach dem Krieg, hier lebte ich mit meinen Eltern, hier habe ich die Teilung der Stadt und den Kalten Krieg erlebt. Und hier reifte auch meine Entscheidung, von Westberlin in die DDR überzusiedeln. Aber natürlich habe ich in Schlesien meine alte Heimat wiedergesehen. Wir waren auf der Schneekoppe, ich habe Breslau wiedergesehen. Dass Schlesien nach dem Krieg zu Polen gehörte, war natürlich ein Verlust von Heimat. Aber es war auch das Ergebnis des Zweiten Weltkriegs, ein geschichtliches Ereignis, das seine Ursachen im Hitlerkrieg hatte. Das Wiederkehren an den Geburtsort ist ein Erlebnis im einheitlichen Europa von heute.

Was war das für ein Gefühl, das Haus Ihrer Kindheit zu sehen?

Merkwürdig. Vieles war genau so, wie ich es in Erinnerung hatte. Eigentlich hatte ich mit alldem schon abgeschlossen. Es war mein Sohn, der mich gedrängt hatte, dort hinzufahren, wegen der Herkunft unserer Familie. Mein Vater, auch ein Architekt, kam aus Franken, aus Fürth, und ist in Schlesien zur Weimarer Zeit hängen geblieben.

Ist die Reise nach Breslau deshalb nicht in Ihre Arbeitsbiografie eingegangen, weil Sie selbst nicht der Handelnde waren?

Nein, ich brauchte sie dafür nicht. Aber es stimmt: Ich habe mich mit Handeln immer aus den inneren und äußeren Bedrängungen herausmanövriert. Ich bin immer ein Aktiver gewesen, nicht so sehr ein Reflektierender.

Haben Sie Sich manchmal auch überschätzt?

Rückblickend: Ja. Ich habe die Möglichkeit des Beitrags eines Einzelnen unter den jeweiligen Bedingungen seines ihm gegebenen Lebens überschätzt.

Als sie 1982 in Ungnade fielen, haben Sie den Glauben an den Sozialismus nicht verloren. Sind Sie ein Idealist?

Nicht im philosophischen Sinne. Aber das Potenzial idealer Vorstellungen hat mich immer bewegt.

Stand hinter Ihrem Engagement für eine bessere Architektur, für menschenfreundliche Städte, und den Mauern, gegen die Sie damit gelaufen sind, auch ein kultureller Konflikt? Der Intellektuelle Bruno Flierl und die Diktatur des Proletariats?

Die Auftraggeber von Architektur standen in früheren Zeiten auf dem höchsten kulturellen Niveau ihrer Zeit. Es wird ja immer über das Verhältnis von Schinkel zu Friedrich Wilhelm IV. geredet. Da war ein Auftraggeber, mit dem Schinkel auch nicht immer einverstanden war. Aber da war eine Kommunikation. Das Verhältnis von Hitler und Speer hat schon nicht funktioniert, von Ulbricht und Henselmann ganz zu schweigen. Ich will nicht die Herrscher miteinander vergleichen, sondern das kulturelle Niveau. Der neue gesellschaftliche Auftraggeber in der DDR kam, sozialisiert vor dem Krieg, aus dem Proletariat.

Warum haben Sie sich das so lange angetan?

Das frage ich mich auch oft. Ich habe keine andere Erklärung als die: Ich konnte mir ganz einfach nicht vorstellen wegzugehen. Wohin denn?

In die politische Opposition.

Dazu hatte ich keinen Kontakt. Ich habe auf Gorbatschow gesetzt, auf einen demokratischen Sozialismus. Ich hatte gehofft, mit ihm könnte es werden.

Den Besuch von Gorbatschow in Ostberlin im Oktober 1989 haben Sie von Paris aus erlebt. Sie sind dann wieder nach Ostberlin zurück.

Nachdem die Veränderungen im Gange waren, wollte ich sie miterleben. Ich habe nur nicht gewusst, dass der Sozialismus schon so bankrott ist.

Hand aufs Herz: Was war der 9. November für Sie? Ein Zusammenbruch? Oder ein glücklicher Moment für eine bis dahin geteilte Stadt?

Es war sehr widersprüchlich. Aber eigentlich war es ein ganz trauriger Moment, weil meine utopische Konzeption zu Ende war. Ich bin kein glücklicher und auch kein befreiter Mensch, schon gar kein Überläufer gewesen.

Wie ist das heute?

An meinem Geburtstag übergebe ich mein Archiv der Universität der Künste und dem Institut für Regionalentwicklung und Strukturplanung in Erkner, wo auch die Arbeitsbiografie erscheint. Danach mische ich mich weiter ein.