„Kurz nach sechs rief die Stasi an“

Uwe Müller

„Wir blieben in den Gesprächen so unpolitisch wie möglich. Auch wir waren DDR-Bürger und hatten unsere Erfahrungen gemacht. Aber wir waren ausgebildet, zu schauen, wie wir dem Einzelnen helfen können“ „Sobald ein Politiker schräg hustet oder eine Zeitung mit einer fetten Überschrift aufmacht, rufen die Leute bei uns an. Oft werden die Themen so vermittelt, dass sie bei den Menschen Angst und Schrecken auslösen“

Telefonieren war in der DDR eine besondere Sache. Normalbürger warteten Jahre auf einen Anschluss. Und dann mussten sie fürchten, dass die Stasi sich in die Leitung klinkt. Uwe Müller hat das 1988 nicht mehr geschreckt. Zusammen mit anderen Sozialarbeitern gründete er die Kirchliche Telefonseelsorge in Ostberlin. Nach der Wende hatte er wieder Stasi-Mitarbeiter in der Leitung – nun als Menschen, die Hilfe brauchten. Bis heute ist Uwe Müller (47) Leiter der Telefonseelsorge. Statt anfangs 24 betreut er jetzt 160 ehrenamtliche Mitarbeiter. 30.000 Anrufe haben sie im letzten Jahr entgegengenommen. Zum 17. Jahrestag des Mauerfalls ein Gespräch über die Sorgen der Berliner damals und heute

INTERVIEW ANTJE LANG-LENDORFF

taz: Herr Müller, haben Sie schon mal bei der Telefonseelsorge angerufen?

Uwe Müller: Ja, Anfang der 90er-Jahre. Da ist mir mein Wochenendhäuschen abgebrannt. Ich habe die Nachricht mitten in der Nacht bekommen und mir erst mal einen Whisky eingegossen. Man macht sich ja so seine Gedanken, wie das passieren kann, ob es Brandstiftung war. Ich brauchte ganz dringend jemanden zum Reden und habe deshalb bei der Telefonseelsorge angerufen. Der Kollege hat mich natürlich erkannt und hat eine halbe Stunde mit mir gesprochen. Es ist an dem Abend bei dem einen Whisky geblieben.

Was verändert sich dadurch, dass man über ein Problem spricht?

Man gibt etwas weiter. Wenn ich merke, dass das, was ich sage, beim Zuhörer ankommt, ist das schön und wichtig für mich. Indem ich erzähle, fange ich außerdem an zu strukturieren. Der andere muss gar nicht viel sagen. Es kristallisiert sich heraus, was mir eigentlich wichtig ist. Probleme kann ich dann viel leichter handhaben.

Damit Menschen in Not Zuhörer finden, haben Sie 1988 die Kirchliche Telefonseelsorge in Ostberlin mit gegründet. Was hat die Stasi dazu gesagt?

In Westberlin gab es die Telefonseelsorge schon seit den 50er-Jahren. Auch unsere DDR-Kirchenleitung hatte dieses Thema schon früh auf der Tagesordnung. Aber die Staatssicherheit und die Abteilung Inneres haben immer angedeutet, dass das nicht erwünscht ist und dass Gespräche abgehört werden können. Erst in den 80er-Jahren wurde die Kirche selbstbewusster und hat gesagt: Wir fordern, dass die Gespräche nicht abgehört werden, und machen das. Die Zeit war reif. Der Staat hat uns natürlich viele Steine in den Weg gelegt. Sie wollten uns weder Räume noch einen Telefonanschluss geben. Schließlich haben wir eine Wohnung gefunden, die schon einen Anschluss hatte.

Und, wurden Sie abgehört?

Im ersten halben Jahr wurden alle Telefonate mitgeschnitten, aber das wussten wir damals nicht. Wir haben aber immer geahnt, dass wir abgehört werden. Der Telefondienst dauerte damals von 18 Uhr abends bis 6 Uhr morgens, weil das die Nachtlücke war, in der die Menschen sonst niemanden erreichen konnten. Eine Minute nach sechs klingelte immer das Telefon, doch es war niemand dran. Das war wohl der Kontrollanruf der Sicherheitsorgane, da haben die vielleicht ihr Tonband ausprobiert. Auffällig war auch, dass nach Gesprächen, in denen es um politische Themen ging, oft die Leitung tot war.

Was für Probleme hatten denn die Anrufer damals, kurz vor der Wende?

Die ganz normalen Probleme, die das Leben so bringt: Ehescheidungen, Schwierigkeiten mit den Kindern, Konflikte am Arbeitsplatz. Manchmal ging es aber auch um Ausreisen in den Westen. Es kam vor, dass ältere Leute anriefen und sagten, ihre Kinder seien in den Urlaub nach Ungarn gefahren. Sie machten sich Sorgen, dass die nun nicht mehr zurückkommen. Wenn wir gemerkt haben, es geht um ein politisches Thema, haben wir immer gesagt: Stopp. Wir möchten Sie darauf hinweisen, dass wir nicht garantieren können, dass das Gespräch nicht abgehört wird. Die meisten haben dann gesagt: Das wissen wir doch. Die sollen ihre Lauscher ruhig aufsperren und hören, welche Sorgen wir haben.

Hat sich die Telefonseelsorge denn als ein Teil der Opposition verstanden?

Das schon. Einige unserer ehrenamtlichen Mitarbeiter waren auch aktiv im Neuen Forum …

eine der Bürgerbewegungen, die in der Wendezeit entstanden.

Ja. Trotzdem hatte ich nie Sorge, dass wir Probleme mit dem Staat bekommen würden.

Weshalb?

Weil wir in den Gesprächen so unpolitisch wie möglich geblieben sind. Auch wir Telefonseelsorger waren natürlich DDR-Bürger und hatten in dem System unsere Erfahrungen gemacht. Aber wir waren ausgebildet, zu schauen, wie wir dem einzelnen Menschen helfen können. Wir haben es nicht als unsere Aufgabe verstanden, das politische System umzukrempeln. Telefonseelsorge hat außerdem immer auch eine das System stabilisierende Funktion. Wenn die Leute Dampf ablassen, sind sie hinterher viel ruhiger und machen keine Rebellion. Das hat die Abteilung Inneres irgendwann wohl auch gemerkt. Jedenfalls wurden die technischen Störungen nach einem halben Jahr viel weniger.

Wie haben Sie den November 1989 erlebt?

Ich war in dieser Zeit persönlich ziemlich durch den Wind, weil meine geschiedene Frau mit unserem Sohn gerade in den Westen ausgereist war. Ich dachte, ich würde mein Kind die nächsten Jahre nicht sehen. Ich war ohnmächtig. Ich hätte selbst ausreisen können, aber ich wollte nicht auch noch gehen. Mein Freundes- und Bekanntenkreis hatte sich schon sehr gelichtet. Dabei war es durchaus eine hoffnungsvolle Zeit. Ich dachte: Wenn wir an Veränderungen arbeiten wollen, dann müssen wir das jetzt tun. Außerdem war mir klar, dass eine Ausreise des Leiters die Arbeit der Telefonseelsorge gefährden würde. Der 9. November war dann ein wunderschöner Tag. Die Mauer war auf. Ich wusste, ich werde die Beziehung zu meinem Kind weiterleben können. Ich bekomme heute noch eine Gänsehaut, wenn ich Bilder aus dieser Zeit sehe.

Wie hat sich denn die Wende auf Ihre Arbeit ausgewirkt?

Man hat das sehr deutlich gemerkt. Zunächst haben viele angerufen, die das einfach nicht fassen konnten, die sich vergewissern wollten, ob das, was sie im Fernsehen sahen, stimmte. Die erste Zeit war auch mit existenziellen Ängsten verknüpft. Viele haben gefragt: Werden jetzt noch mehr gehen? Bleibe ich alleine in meinem Dorf zurück? Sehr schnell hatten wir die ersten Arbeitslosen am Telefon. Das waren die ehemaligen Mitarbeiter der Staatssicherheit. Die haben die Welt nicht mehr verstanden. Sie meinten, sie hätten das doch alles nur zum Wohle des Volkes gemacht.

Was haben Sie dazu gesagt?

Für viele Ehrenamtliche war das eine ausgesprochen schwierige Situation, sie waren ja vorher teilweise selbst den Repressalien ausgesetzt. Einige hatten beispielsweise nicht ihren Wunschberuf wählen können, weil sie in christlichen Bezügen groß geworden waren. Die hatten nun Täter am Apparat, die sich jetzt auch als Opfer fühlten. In der Supervision war das ganz schnell ein Thema. Wir haben versucht, diese Menschen zu verstehen. Man kann aber auch nicht aus seiner Haut, wir haben schon gesagt, dass es nicht so toll war, was sie gemacht haben.

Kam es am Telefon zum Streit?

Einige Anrufer haben versucht, uns in Streitgespräche zu verwickeln. Aber das hat in der Telefonseelsorge keinen Sinn. Als Zuhörer kann ich nur gucken: Woher kommen die Aggressionen? Dazu sind die Mitarbeiter ja ausgebildet.

Nach der Wende konnten ja bald auch Westberliner bei Ihnen anrufen. Gab es da einen Unterschied?

Sehr sogar. Wir stellten fest, dass die in einer ganz anderen Welt lebten. Ich erinnere mich an einen Fall, da hat jemand angerufen, der sich in einer finanziellen Notlage befand. Das kam man verstehen. Aber als er erklärte, die Lage sei jetzt so angespannt, man müsse schon den Zweitwagen verkaufen, dachten wir: wieso Zweitwagen? Wir von der Telefonseelsorge konnten uns nicht mal ein Auto leisten. Bald haben auch Leute aus dem Westen bei uns die Ausbildung gemacht, sodass das Team gemischter wurde.

Wie haben sich die Sorgen der Berliner seit der Wende verändert?

Das Problem der Einsamkeit ist viel größer geworden. In der DDR war der Zusammenhalt in der Familie oft sehr groß, sie war der geschützte Raum vor dem System. Hier herrschte wirklich Vertrauen, man half sich gegenseitig. Im Westen hatte man das nicht so nötig. Man konnte sich ja jede Dienstleistung kaufen. Inzwischen gibt es auch im Osten viel seltener so enge Familienbande wie in der DDR früher. Wir haben uns dem westlichen Familienbild angeglichen, die Kinder ziehen ihrer Arbeit hinterher, die Eltern bleiben allein zurück.

Auch Arbeitslosigkeit kann zu Vereinsamung führen.

Natürlich, das ist bei uns ein ganz großes Thema. Den Menschen gehen die sozialen Kontakte verloren. Plötzlich haben sie Leerlauf.

Sie sprechen von der so genannten Unterschicht?

Ja, aber ich würde sie nicht so nennen, weil das meiner Meinung nach ausgrenzend wirkt. Wir erleben im Übrigen auch häufig, dass Akademiker anrufen, die keinen Fuß in die Tür bekommen, die herumgereicht werden von einem Praktikum zum nächsten. Da habe ich den Eindruck, dass die Gesellschaft diesen Leuten die Zukunft verweigert.

Spielen am Telefon auch politische Entscheidungen eine Rolle?

Aber ohne Ende. Sobald ein Politiker schräg hustet oder eine Zeitung mit einer fetten Überschrift aufmacht, rufen die Leute bei uns an. Zum Beispiel die Praxisgebühr. Schon bevor irgendetwas entschieden war, hat bei uns das Telefon geklingelt. Unsere Mitarbeiter wussten gar nicht, was sie sagen sollten. Dann denke ich: Es ist natürlich richtig, dass wir die Informationsfreiheit haben. Aber oft werden die Themen so vermittelt, dass sie bei den Leuten Angst und Schrecken auslösen. Irgendwer schreit ja immer: Achtung, Achtung, Gefahr im Verzug. Das bekommen wir dann am Telefon zu spüren.

Zum Beispiel?

Als Hartz IV in die Umsetzung kam, haben alle gedacht, jetzt geht das Licht aus. Oder Zwangsumzüge. Die Menschen bekommen kaum Informationen von der Behörde, die landen dann bei uns.

Kürzlich hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass Berlin keine Entschuldungshilfe vom Bund bekommt. Hat sich das bei Ihnen bemerkbar gemacht?

Noch an demselben Tag haben die Leute angerufen und gefragt: Was bedeutet das jetzt für uns? Kürzen sie uns das Wohngeld? Werden die Wohnungsbaugesellschaften verkauft? Kommen jetzt die Heuschrecken? Wir können dann immer nur versuchen, den Menschen zu helfen, mit ihren Ängsten umzugehen.

Sie haben die Kirchliche Telefonseelsorge seit 18 Jahren mitgeprägt. Hat diese Arbeit Sie verändert?

Ich habe einen sehr liebevollen Blick auf die Menschen gekriegt, ich bin weicher geworden. Weicher für das, was mir Menschen erzählen. Es entsteht heute schneller Nähe und Vertrautheit, weil ich selber genug Krisen erlebt habe, die mir mit Mitte 20 gefehlt haben.

Welche Rolle spielt der Glaube bei Ihrer Arbeit?

Der hilft mir täglich. Wenn beispielsweise jemand mit einer suizidalen Krise anruft, kann ich als kleiner Mensch wenig tun. Ich kann nur sagen, ich lege dieses Schicksal in Gottes Hände und bitte, dass dieser Mensch die nächste Stunde überlebt. Dass er merkt, dass nach so einer Dunkelheit auch wieder ein neuer Sonnenaufgang kommt. Ich habe die Hoffnung, dass jeder nur so viel aufgeladen bekommt, wie er bewältigen kann.