IM KAMPFKUNSTZENTRUM: Kanal des Todes
„Du musst den Kanal des Todes freimachen“, sagt er. Ein Tritt, eine Faust, durchgezogene Schläge. Ich stehe vor ihm wie Gummi. Biege meinen Körper nach links, nach rechts, nach hinten. „Sehr gut“, sagt der Trainer, der nicht Trainer heißt, sondern Sifu. Die Lektion ist einfach: Ist der andere stärker, versuche gar nicht erst, ihn zu besiegen. Winde dich wie ein Aal, sehe aus wie ein Idiot. Hauptsache, es tut nicht weh, Hauptsache, er zertrümmert dich nicht. Warte, bis ihm die Kraft ausgeht.
„Partnerwechsel!“ dröhnt es durch den Raum. Vor mir nun ein Koloss. Ein Koloss, von dem ich weiß, er leidet unter dem Obelix-Syndrom. Der hat schon drei Sandsäcke aus der Decke gehauen, hat man mir erzählt. Der kann seine Kraft nicht einschätzen. Er steht vor mir und tut schlaff. Das ist ihm alles zu doof, ich bin ihm zu doof, keine Muskeln, keine Ahnung, keine Technik. Ich hole aus, mit dem ganzen Körper. Er bewegt sich keinen Millimeter. „Ich hab keinen Bock, zu tanzen“, sagt der Koloss. „Ich auch nicht“, sage ich. Wer will schon tanzen. Das hier nennt sich Kampfsport, genauer Kampfkunstzentrum. Muss ja immer gleich alles Kunst sein. Fast alle Männer hier arbeiten an Türen. Das wird sich noch als praktisch erweisen, denke ich. Noch ein paar Wochen, und ich komme in jeden zweiten Kreuzberger Club mit Handschlag rein.
Partnerwechsel! Ein Vierzehnjähriger steht vor mir und fragt, was mein Lieblingsfach gewesen sei. „Deutsch“, sage ich. Er schüttelt den Kopf. „Mathe, das ist gut, aber Deutsch, das ist doch überflüssig.“ Er kommt kaum drüber weg, ich versetze ihm einen Schlag in den Nacken. Er war abgelenkt, nicht meine Schuld. Immer schön den Kanal des Todes freimachen. Er schlägt zurück. „Deutsch?!“ Der Junge dreht mir den Arm auf den Rücken und tritt mir in die Kniekehle. „Ich meine Gedichte und so, das ist doch echt überflüssig.“
LUCY FRICKE
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