Berliner Ökonomie
: Nie mehr aussitzen müssen

Draußen ist es freier als drinnen: Warum Migranten und Nomaden nicht Flexibilisierung, sondern gelebte Ortlosigkeit verkörpern

Am 10. März findet erneut im Theater Hau 2 ein „Schwarzmarkt des Wissens“ statt. Diesmal reden die Experten dort über „Migranten“. Was wissen wir bereits über sie? „Die Fackel der Befreiung“ ist von den sesshaften Kulturen an „unbehauste, dezentrierte, exilische Energien“ weitergereicht worden, „deren Inkarnation der Migrant“ ist – meinte der Exilpalästinenser Edward Said. Für den Engländer Neal Ascherson sind es insbesondere „Flüchtlinge, Gastarbeiter, Asylsucher und Obdachlose“, die nun zu Subjekten der Geschichte geworden sind. Der polnische Künstler Krzysztof Wodiczko schlussfolgerte: „Der Künstler muss als nomadischer Sophist in einer migranten Polis aufzutreten lernen“ – auf ihren neuen Agoren: den Plätzen, Märkten, Parks und Bahnhofshallen der großen Städte.

Noch weiter geht der Slawist Karl Schlögel, der von einem ganzen „Planeten der Nomaden“ spricht. Das Paradoxe daran ist, dass die letzten noch nomadisch lebenden kleinen Völker weltweit zur Sesshaftigkeit gezwungen werden (durch Grenzziehungen, Eigentumstitel an Boden, Brunnenprivatisierung, Abholzung von Wäldern, Preisverfall ihrer Produkte usw.) – während gleichzeitig den Sesshaften überall mittels Betriebsverlagerungen oder -abwicklungen, Projektdenken und Prekarisierung ein neuer Nomadismus aufgezwungen wird. Vilém Flusser sagte es so: „Wir dürfen also von einer gegenwärtig hereinbrechenden Katastrophe sprechen, die die Welt unbewohnbar macht, uns aus der Wohnung herausreißt und in Gefahren stürzt. Dasselbe lässt sich aber auch optimistischer sagen: Wir haben zehntausend Jahre lang gesessen, aber jetzt haben wir die Strafe abgesessen und werden ins Freie entlassen. Das ist die Katastrophe: dass wir jetzt frei sein müssen. Und das ist auch die Erklärung für das aufkommende Interesse am Nomadentum …“

Nun hatten bereits Gilles Deleuze und Félix Guattari dazu optimistisch-katastrophisch gestimmt eine ganze „Nomadologie“ entworfen, „Mille Plateaus“ genannt. Unser mongolischer taz-Kollege Dondog Batjargal reagierte darauf 2006 mit der Gründung einer Zeitung namens Super-Nomad, deren Nummer 2 nunmehr im taz-café käuflich erworben werden kann. An einer Stelle kritisiert der Autor Mathias Mildner darin die Tendenz, neue Migranten (migrantischen Nomadismus) und alte (viehzüchterische) Nomaden umstandslos zusammenzudenken. Besonders gilt dies für die Münchner Journalistin Gundula Englisch, die den Nomadenschriftsteller Galsan Tschinag und sein Wissen einfach dumpf mit den neuen, zudem noch vereinzelten Erfahrungen der elektronischen Revolution verknüpfte. Herausgekommen ist dabei eine Art Ratgeber für „Jobnomaden“, der in das „Szenario“ einer zukünftig allumfassenden Mobilität mündet, obwohl die Autorin zugeben muss, dass gerade die Mitteleuropäer einem „Wohnortwechsel selbst bei drohender Arbeitslosigkeit“ noch äußerst ablehnend gegenüberstehen (in der Ex-DDR sind es noch über 70 Prozent der Bevölkerung).

Für Mildner stellt sich die Situation völlig anders da. Während die Nomaden den Raum beherrschen, nehmen die Sesshaften ihn in Besitz, sie zerstückeln und markieren ihn, um ihn aufzuteilen. Deleuze/Guattari reden in diesem Zusammenhang vom Gegensatz zwischen dem „Glatten und dem Gekerbten“. Zu den Einkerbungen der Sesshaften und ihrer Staaten gehören Grenzposten, Festungen, Stacheldraht, Mauern etc. Zwar hat auch der Nomade Punkte (Wasserstellen, Winterplätze, Versammlungspunkte), aber die Frage ist, was ein Prinzip des nomadischen Lebens ist und was nur eine Folge: „Die Punkte sind den Wegen, die sie bestimmten, streng untergeordnet, im Gegensatz zu dem, was bei den Seßhaften vor sich geht.“ Das gilt auch noch bei den Migranten, die „prinzipiell von einem Punkt zum anderen gehen“ (oder es zumindestens versuchen). Während aber der Sesshafte „einen geschlossenen Raum unter den Menschen aufteilt, verteilt der Nomade die Menschen und Tiere in einem offenen Raum, der nicht definiert und nicht kommunizierend ist“. Anny Milovanoff schreibt in „La seconde peau du nomade“ („Die zweite Haut des Nomaden“): „Der Nomade hält sich an die Vorstellung seines Weges und nicht an eine Darstellung des Raumes, den er durchquert. Er überläßt den Raum dem Raum.“

Das tun im Kreuzberger Wrangelkiez quasi auch die zwei Buchläden dort: Während der eine – „b_books“ in der Lübbener Straße 14 – sich zur Topadresse für Migrantenliteratur mausert, baut der andere – „ebertundweber“ in der Falckensteinstraße 44 – langsam, aber sicher eine Nomadenbibliothek auf. Im Zweifelsfalle wird man vom einen Raum auf den anderen verwiesen (sie liegen 500 Meter Luftlinie voneinander entfernt). Für die einen wie die anderen mit der Sesshaftigkeit Hadernden gelten jedoch Buddhas letzte Worte, die er zum Abschied an seine Schüler richtete: „Geht weiter!“ HELMUT HÖGE