Die Kohlefraktion ist in Rente

„Helmut Schmidt hatte immer ein offenes Ohr für die Bergleute und ihre Nöte“

AUS BOCHUM HOLGER PAULER

Herbert Wehner saß stumm da. Die Pfeife im Mund, hörte sich der Fraktionsvorsitzende der SPD stundenlang die Vorträge der Kohlekumpel an. „Er verzog keine Miene und unterbrach uns kein einziges Mal“, sagt Adolf Schmidt, damals Vorsitzender der Industriegewerkschaft Bergbau und Energie (IG BE).

Am Abend des 12. Dezember 1971 ging es in der Bonner SPD-Fraktion mal wieder um die Zukunft des Steinkohlebergbaus. „Wir wussten, dass Wehner der starke Mann in der sozialliberalen Koalition war“, erzählt Schmidt. Willy Brandt habe zwar auch immer ein offenes Ohr für die Kohlefraktion gehabt, doch Wehner sei der Einzige gewesen, der die Macht hatte, die Genossen zu überzeugen. „Am Ende des Vortrags sagte er kurz: ‚Gut, ich bin überzeugt...‘“. Am nächsten Tag ging das Gesetz zur Anpassung des Bergbaus durch den Bundestag. Bergleute, die „unter Tage“ arbeiteten, konnten ab 60 sozial abgesichert in Rente gehen. Eine einmalige Errungenschaft in der Nachkriegsgeschichte, vor allem aber auch ein Signal für die weitere Zukunft der Steinkohle.

Adolf Schmidts Stimme ist brüchig, sein Gesichtsausdruck ernst. Er trägt einen eleganten Zweireiher in beige-grau. Den runden Hut hat er abgelegt. Den Kaffee trinkt er mit Milch. „Anders vertrag ich ihn nicht mehr.“ Der 81-Jährige hat den Aufzug genommen, um in die erste Etage des „Hauses der Geschichte des Ruhrgebiets“ zu kommen. „In meinem Alter schaffe ich die Stufen nicht mehr“, sagt er. Die Stufen im Treppenhaus sind eineinhalb Zentimeter höher als üblich. Ein Fehler, der beim Bau im Jahre 1954 schlicht übersehen wurde.

Adolf Schmidt kennt die Treppen. Der gewerkschaftseigene Berg-Verlag residierte mehr als 40 Jahre in dem Gebäude. Die Zeitung Einheit wurde bis in die 1990er Jahre hier gedruckt. Als Chef der IG BE hatte Schmidt die Aufsicht über Verlag und Mitarbeiter, darunter der spätere NRW-Ministerpräsident Wolfgang Clement oder der SPD-Fraktionsvize Norbert Römer. Seit der Instandsetzung 1998 sitzt hier die „Stiftung des Ruhrgebiets“.

Zu den aktuellen Kohlegesprächen in Berlin möchte Adolf Schmidt sich lieber nicht äußern. „Nachher fall ich noch meinen Kollegen und Genossen in den Rücken“, sagt er mit einem Lächeln. Doch dem Ende des Bergbaus hätte er wohl nicht zugestimmt. Die Kohle hat Schmidts Leben geprägt. Mehr als ein halbes Jahrhundert. „Den Sozialdemokraten in Berlin passen halt die alten Anzüge nicht mehr“, sagt er. Die Kohlefraktion ist längst in Rente oder, wie in NRW, in der Bedeutungslosigkeit verschwunden.

Vor gut 20 Jahren ist Schmidt aus dem großen Geschäft ausgestiegen. Von 1969 bis 1985 führte er die IG BE, zwischen 1972 und 1986 saß er für die SPD im Bonner Bundestag, zeitweise als Fraktionsvize. Die Probleme seiner Nachfolger auf dem Weg zum Kohlekompromiss kann er gut nachvollziehen. Aber Mitleid? „Ich beneide sie zwar nicht unbedingt um ihren Job, aber dafür werden sie ja auch ganz gut bezahlt.“ Gut genug, um das Ende des Steinkohlebergbaus im Jahr 2018 mit reinem Gewissen auch gegenüber der eigenen Partei vertreten zu können. Schmidt weiß, was in den kommenden zwölf Jahren auf die 30.000 übrig gebliebenen Bergleute zukommt. „Es gibt keine letzte Schicht ohne Tränen in den Augen gestandener Bergleute“, sagt er. Allein in den 15 Jahren als IG BE-Chef hat er 40 Zechen schließen müssen. „Das waren 40 Beerdigungen“, sagt er und schweigt.

In unzähligen Versammlungen mussten die Beschäftigten über ihre neuen Arbeitszeiten informiert werden, über Kurzarbeiten und Feierschichten. Und natürlich darüber, wie es nach der Schließung weitergehen sollte. „Jedes einzelne Bergmannschicksal lag mir am Herzen“, sagt Schmidt. So sehr, dass er irgendwann den Satz prägte: „Kein Bergmann fällt ins Bergfreie.“ Ob Peer Steinbrück und Franz Müntefering daran gedacht haben, als sie jetzt dem Kohlekompromiss zustimmten?

In den 1950er Jahren lief die Produktion auf Hochtouren. Mehr als eine halbe Million Kumpel arbeiteten auf den knapp 200 Zechen. Doch der Absatz stockte bald. Die Kohlehalden wuchsen und die Schulden der Bergbaugesellschaften stiegen. Die Kohle war nicht mehr wettbewerbsfähig. „Es gab erste Feierschichten und Bergwerke mussten geschlossen werden“, erinnert sich Schmidt. Vor allem das Öl hatte der Steinkohle den Rang abgelaufen. Der Druck auf die Bundesregierung des CDU-Kanzlers Konrad Adenauer wuchs. 80.000 Bergleute machten sich 1958 auf den „Marsch nach Bonn“. „Alles war diszipliniert, die Bannmeile war Tabu“, sagt Schmidt.

Der gebürtige Hesse arbeitete damals noch in Süddeutschland. 1965 wurde der gelernte Schlosser in den Vorstand der IG BE gewählt. Nachdem der Vorsitzende Walter Arendt als Arbeitsminister in die sozialliberale Bundesregierung Willy Brandts berufen wurde, rückte Schmidt auf den Chefposten.

Die Gewerkschaft galt als straff organisiert. Vorsitzende wie Schmidt oder Arendt standen für den rechten Flügel der SPD. „Wir machen anständige Politik für anständige Leute“, sagte Schmidt damals.

Vermutlich hatte das auch die schwarze Bundesregierung überzeugt. 1958 stellte sie dem Bergbau 70 Millionen Mark zur Verfügung, außerdem wurden die Bergleute nach 15 Jahren wieder in die Arbeitslosenversicherung aufgenommen. 1943 hatte die NS-Staatsführung die Kumpel aus der Arbeitslosenversicherung abgemeldet. „In ihrer Philosophie war es nicht vorgesehen, dass Bergleute arbeitslos werden“, sagte Schmidt.

Dabei hätten die Nazis es eigentlich besser wissen müssen. Ein Jahr vor der Machtübernahme im Jahr 1933 war die deutsche Wirtschaft und mit ihr auch der deutsche Bergbau am Boden. „Ich habe das Elend damals als Siebenjähriger mitbekommen. Ich musste mit ansehen, wie Menschen reihenweise arbeitslos wurden und geistig wie körperlich zu Grunde gingen“, erzählt Adolf Schmidt. Diese Bilder habe er niemals vergessen. Als Chef der IG BE habe er sich geschworen, dass kein Bergmann, auch kein arbeitsloser, in Armut enden dürfe.

„Es gibt einfach keine letzte Schicht ohne Tränen in den Augen gestandener Bergleute“

Trotz der staatlichen Hilfen ging es mit dem Bergbau weiter bergab. Zwischen 1957 und 1967 wurden knapp 100 Bergwerke geschlossen, mehr als 200.000 Bergleute verloren ihren Job. „Wir haben demonstriert und verhandelt, aber es änderte sich nichts.“ Mitte der 1960er Jahre war klar, dass sich etwas ändern musste. „Der Ruhrkohlebergbau musste neu organisiert werden“, sagt Schmidt. Die Stilllegung der Zeche Fürst Bismarck 1968 war „ein dramatischer Höhepunkt“. Die Zeche gehörte dem Ölkonzern DEA. Es war seine einzige Zeche. „Innerhalb des Konzerns gab es keine Möglichkeit, Bergleute zu verlegen.“ Die Leute wurden also nach Hause geschickt. „Eine stolze Zeche mit bester Kohle und leistungsbereiter Mannschaft“, sagt Schmidt.

IG BE-Chef Walter Arendt nahm sich der Sache an. „Er war ein kluger, geschickter Stratege.“ Die Politik musste überzeugt werden, und auch die Partner im Bergbau hatten anfangs noch Bedenken. „Es waren zähe Verhandlungen“, an denen Schmidt als Vorstand der IG BE beteiligt war. An deren Ende, im Jahr 1969, stand die Ruhrkohle AG (RAG) als Einheitsgesellschaft des deutschen Steinkohlebergbaus. 94 Prozent der deutschen Steinkohle wurde nun unter dem Dach der Ruhrkohle gefördert. „Die Gründung war nicht so verlaufen, wie wir es uns vorgestellt hatten“, erzählt Schmidt. Die Ruhrkohle bekam keine Kraftwerke und auch keine Werkswohnungen. Aber die „Stiefmuttergesellschaft“ war die einzige Möglichkeit, halbwegs abgesichert die kommenden Jahrzehnte anzugehen.

Doch der deutsche Steinkohlebergbau war nicht mehr konkurrenzfähig. Auch die Einführung des Kohlepfennigs im Jahr 1974 konnte daran nichts ändern. Die Einnahmen wurden letztlich für den „Jahrhundertvertrag“ der deutschen Steinkohle gebraucht, der einen sozialverträglichen Rückbau des Steinkohle-Bergbaus vorsah. „Die Zeit der Kohledebatten im Bundestag war da bereits vorbei“, sagt Schmidt. „Ich musste sehen, dass ich die Gedanken der Bergarbeiterschaft an die Führung der Partei und Fraktion weitergab.“ Schmidt hatte gute Kontakt zu Willy Brandt und vor allem zu Helmut Schmidt. „Helmut hatte immer ein offenes Ohr für die Bergleute und ihre Nöte“, sagt Adolf Schmidt. Als ehemaliger Verteidigungsminister habe er gewusst, was Sicherheitspolitik sei „und was Sicherheit für die Bergleute bedeutet“.

Seit dem Jahrhundertvertrag ging es vor allem um die Absicherung der Bergleute – auch nach der Schließung ihrer Zechen. Anfang der 1990er Jahre sank die Belegschaft der Zechen unter die 100.000er-Marke, die IG Bergbau und Energie fusionierte mit der IG Chemie und die Ruhrkohle AG setzte nach ihrer Umbenennung zur RAG Aktiengesellschaft im Jahr 1998 vor allem auf die Sparten Chemie, Energie und Immobilien – mit dem Ziel, den Konzern an die Börse zu bringen. Die defizitäre Steinkohle wurde schließlich in die RAG-Tochter Deutsche Steinkohle AG (DSK) ausgegliedert. Bis Mitte 2007 nun soll die DSK in eine gemeinnützige Stiftung integriert werden, um mit den Mitteln aus Börsengang und Staatssubventionen die vermutlich letzten zehn Jahre des Bergbaus zu begleiten.

„Die Leute, die das zu verantworten haben, sind vielleicht nicht die glücklichsten“, sagt Schmidt. Aber es gebe Dinge, die sollte man behandeln wie die Liebe. „Man muss es machen, ohne groß darüber zu reden.“ Und vielleicht entdecken die Sozialdemokraten in Berlin rechtzeitig ihre Liebe zum Bergbau wieder. Adolf Schmidt würde es freuen.