„… dann stech’ ich alles ab“

Die Integrierte Stadtteilschule an der Helgolander Straße entgeht knapp einem Amoklauf. Schulleiter fordert Betreuung von verhaltensauffälligen Kindern. Pläne dafür gibt es längst, Geld aber nicht

von Armin Simon

Es waren die Eltern selbst, die Thomas Bendlin warnten. Ihr Sohn stoße „wüste Drohungen“ aus, teilten sie vergangene Woche per Telefon mit. Er wolle ein Messer nehmen und „alles abstechen, was ihm in den Weg kommt“. In der Schule, deren Schulleiter Thomas Bendlin ist.

„Ich habe das sehr ernst genommen“, sagt Bendlin. Er kannte seinen Schüler. 15 Jahre alt, erst ein paar Monate in Deutschland, große Sprachschwierigkeiten, verhaltensauffällig von Anfang an. Seinen eigenen Bruder hatte er einmal mit einem Messer attackiert, da musste die Polizei kommen. Und die Eltern, so heißt es, hätten gestanden, sie schlössen sich nachts im Schlafzimmer ein – aus Angst vor ihrem Sohn. Bendlin zögerte nicht lang, schaltete Schulbehörde, Polizei und Jugendamt ein. „Sehr konsequent und sehr schnell“ hätten die dann reagiert, lobt er. Das Amt nahm den Jungen aus der Familie, er soll in psychiatrischer Behandlung sein. Ein verhinderter Amoklauf? „Jeder Schulleiter kann damit in Berührung kommen“, sagt Bendlin.

Für das Jugendamt war der Schüler kein Unbekannter. Eine Woche zuvor hatte Bendlin ihn vom Unterricht suspendiert. „Ein letzter Hilferuf“, sagt er dazu. Weil die Schule nicht mehr klarkam mit dem Jungen. Und weil die Behörden „nicht zu Potte kamen“ mit Hilfen.

Dabei ist der verhinderte Amok-Schüler nur einer von vielen Fällen, bei denen selbst gute Schulen an ihre Grenzen stoßen. Ein einziges Förderzentrum in Bremen hat sich auf verhaltensauffällige Kinder spezialisiert, Mädchen nimmt es erst gar nicht auf. Nötig seien niedrigschwellige „Auszeitprojekte“ in allen Stadtteilen, wie für Schulverweigerer, fordert Bendlin. Pläne dafür gibt es längst, die Schulen würden sogar Lehrerstunden dafür abgeben. Das Sozialressort aber müsste SozialarbeiterInnen finanzieren, etwa zehn. „Das scheitert am Geld“, weiß Bendlin. Man müsse „in jedem konkreten Fall Maßnahmen überlegen“, sagt die Schulbehörde.

Von Polizeischutz vor den Schulen, wie in Baden-Württemberg bisweilen praktiziert, hält Bendlin nichts. Genauso wenig wie von Schulverweisen – bislang die Ultima Ratio bei Problemfällen. „Die helfen überhaupt nichts“, sagt Bendlin, denn sie änderten kein Verhalten. Gewalttaten verhindern könne nur „eine andere Schule“, ist er überzeugt. Eine, die nicht schon um Mittag ihre Pforten schließe. Die nicht ab Klasse fünf die SchülerInnen trenne, sondern ein verbindliches Sozialgefüge aufbaue, die Kinder stärke statt sie beschäme. Er hat die Noten bis Klasse acht abgeschafft, SozialpädagogInnen angestellt, lässt die Kinder voneinander lernen. Das Ganztagsangebot will er verbindlich machen, die SchülerInnen künftig ab der ersten Klasse aufnehmen und bis zur zehnten behalten. Die Anmeldezahlen für die Integrierte Stadtteilschule Helgolander Straße haben sich im letzten Jahr verzehnfacht.

„Die gefühlte Gewalt ist deutlich zurückgegangen“, sagt Bendlin. Eine einzige ernsthafte Schlägerei musste er schlichten, in anderthalb Jahren. Und einmal hielt ein Schüler einem anderen ein Messer an den Hals, wegen einer Zigarette. Bendlin ist mit ihm zu Polizei gegangen, hat ihn für ein halbes Jahr an die Nachbarschule geschickt. Aber er gab ihm eine Rückkehrgarantie. „Das sind doch meine Kinder“, sagt er. Und dass er inzwischen ein prima Verhältnis zu dem Jungen habe.

Podiumsdiskussion „Läuft unsere Gesellschaft Amok?“ mit Bendlin u. a., heute, 20 Uhr, Haus der Wissenschaft