uli hannemann, liebling der massen
: Ein kleiner Junge – bei Regen und Wind

Um ungefähr zehn nach sechs klingelt mein Handy. Ein Kollege ist dran: Ob ich ihn am selben Abend auf seiner Lesebühne vertreten könne. Er hat Radio gehört. Er hat Angst vor dem Sturm. Er möchte nicht weggeweht werden. Zu seiner Entschuldigung muss ich anmerken, dass er ziemlich klein ist. „Ja“, sage ich. Ich bin ziemlich kurz angebunden, weil ich gerade um mein Leben kämpfe.

Genauer gesagt, um unser Leben, wobei mir das der beiden Trusen auf dem Rücksitz meines Taxis herzlich wurscht ist. Die sind nämlich nicht nett. Sie haben gleich an der Route rumgemäkelt, wo es nichts zu mäkeln gab. Jetzt sind sie zum Glück still – sie scheinen den Ernst der Lage begriffen zu haben.

Der Ernst der Lage ist: Wir befinden uns in einer Art riesiger Waschstraße. Überall ist Wasser. Vorne, hinten, oben, unten. In der Mitte auch, da sind wir, mittendrin. Man sieht nicht das Geringste, was beim Autofahren nicht gut ist. Wenn man beim Autofahren nichts sieht, stößt man in Fahrtrichtung irgendwann unweigerlich an. Dann ist das Auto kaputt und der Fahrer ist traurig. Oder tot.

Die Waschstraße heißt Avus und unser Ziel heißt Wannsee. Dort wohnen die beiden bösen Frauen – für böse Frauen scheint Wannsee geradezu ein Eldorado zu sein. Wannsee. Wanne und See. Ein merkwürdiger Zufall – „pack die Badehose ein“: Vielleicht sind wir schon längst da? Im Wannsee? Und ich gründle hier mit zwanzig Knoten über den Grund. Was da so funzelt, sind in Wahrheit irgendwelche Tiefseefische und keine Nebelschlussleuchten. Wie die in meinem Funkkraft-U-Boot funktioniert, weiß ich leider gar nicht. Hab’ ich ja noch nie gebraucht. Irgendwo ziehen, glaube ich – aber wo?

Wir verlassen die Avus und schwimmen einen Nebenarm flussaufwärts. Dort laiche ich die Kundinnen ab und mache mich leer auf den Rückweg stadteinwärts.

Im Radio wird Panik gemacht: Ein Mediensturm. Moderatoren entblöden sich nicht, Hörer dazu zu animieren, sich nicht zu entblöden, im Studio anzurufen. „Mensch, ist das ein Wind“, sagt der eine Hörer. „Mann, ist das ein Regen“, sagt die andere Hörerin. Schon wieder ist eine Stunde Programm gefüllt und eine Stunde Leben vergeudet. Vielleicht wäre es doch ehrenvoller, im Kampf gegen die Naturgewalt zu fallen?

Das könnte ich immer noch haben: In Zehlendorf ist komplett „Land unter“. Wer sich nicht traut, die vollgelaufenen Unterführungen zügig zu durchfahren (kleiner Tipp: Unbedingt beide Hände ans Steuer!), bleibt stecken. Einmal muss ich über den Bürgersteig ausweichen. Ich knattere durch den Niklasstraßenbach, erreiche den Matterhornstraßenfluss und schließlich den Amazonas. Die große Kreuzung am Mexikoplatz zeigt doch tatsächlich Wellen mit Schaumkronen. Doch nicht nur Äste und Baustellenabsperrungen schwimmen im Wasser, sondern auch Jobs für die Taxifahrer.

Ein besonders guter wartet auf mich in Lichterfelde: Ein Kind soll ins Deutsche Theater gefahren werden. Seine Muter will es nicht fahren. Sie hat Radio gehört. Sie hat Angst vorm Sturm. Sie möchte nicht weggespült werden. Unterwegs unterhalte ich mich mit dem Kind. Es ist der Sohn der Medea. In zwei Stunden muss er auf der Bühne seinen Kopf durch ein Loch in der Wand stecken. „Aber ich muss nichts sagen“, erklärt das Kind – ebenfalls ein guter Job!

In der Friedrichstraße zeigt der Junge plötzlich auf ein Modegeschäft: Wir lachen gemeinsam über weiße Overalls, ähnlich denen der Helfer, die im vorigen Winter tote Vögel vom Strand in Plastiksäcke lasen. Ein helles Köpfchen, der Kleine! Auch mal Text und nicht immer mit dem Kopf durch die Wand – das wünsche ich ihm für die Zukunft.

In einer Regenpause stelle ich das Auto ab, schnappe mir mein Fahrrad sowie ein paar Schlechtwettertexte, und fahre zur Lesung. Leider sind nur wenige Zuhörer da. Die anderen haben Radio gehört. Sie haben Angst vorm Sturm. Sie möchten nicht von Lesebühnentrümmern erschlagen werden. Nach Mitternacht trete ich den Heimweg an. Alles halb so schlimm. Gut, es hat tüchtig gegossen. Aber Sturm? Wohl eher einer im Wasserglas. Und im Radio.