punx not dead von JOACHIM SCHULZ
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Eine echte Herausforderung für die persönliche Nervenstärke ist es, wenn Punks in der Mansarde wohnen, die direkt über dem eigenen Domizil liegt. „Ich dachte immer“, seufzte Harald einmal, „Punk wäre nur etwas für junge Menschen – aber Rupert wird vermutlich selbst dann noch die ‚Sex Pistols‘ auflegen, wenn er in 40 Jahren einen bunten Abend im Altersheim gestalten darf.“

Rupert gehörte in den Siebzigerjahren zu den ersten Punks überhaupt und trug noch immer eine Sicherheitsnadel in der Wange. Er verdiente sein Geld als Lohnbuchhalter und benahm sich meistens wie ein gewöhnlicher gesetzter Vierzigjähriger, indem er vom Einkaufen auch andere Sachen mitbrachte als eine Palette billiges Dosenbier.

Bisweilen aber – und zwar vorzugsweise tief nachts – fuhr der Geist von Sid Vicious persönlich in ihn. Dann vibrierten die Wände im Rhythmus der Bässe, und dann wälzte sich Harald schlaflos auf seiner Matratze herum. Einmal war er in seiner Verzweiflung zu ihm hinaufgestiefelt. „O Mist – kannst nicht schlafen, was?“, fragte Rupert: „Warte, das haben wir gleich …“ Doch statt die Musik leiser zu drehen, holte er ein Paar Ohrenstöpsel und eine Flasche Baldriantropfen und wünschte Harald lächelnd süße Träume, ehe er die Tür wieder schloss.

Insofern war Harald keineswegs zu Tode betrübt, als Rupert ihm eines Tages erzählte, dass er nach London ziehen würde. Zwar träumte er in der folgenden Nacht, Rupert hätte die Wohnung an den Schlagzeuger der Punkband „Schwärende Knochenhautentzündung“ weitervermittelt, tatsächlich aber wurde die Mansarde vom Hausverwalter an einen zauselbärtigen Burschen vermietet, den Harald beim Einzug auf der Treppe traf: Er trug einen selbstgestrickten Pullover, war Lehrer für Deutsch und Werken und sah so aus, als ob er allenfalls Donovan-Platten in Zimmerlautstärke hörte.

Da aber irrte sich Harald. Und zwar gründlich. Am Tag nach dem Einzug begannen die Renovierungsarbeiten: Fußböden wurden abgeschliffen, Löcher gebohrt, Bretter gesägt und zusammengezimmert. Das Problem daran war: Es hörte nicht mehr auf. Wochen, Monate vergingen, doch die Fräsen, Hobel und Akkuschrauber lärmten in einem fort. „Ich weiß nicht, wo er das ganze Zeug lässt, das er zusammenbaut“, jammerte Harald einmal, „aber er hämmert und sägt immerzu. Es ist zum Wahnsinnigwerden.“

Schließlich stapfte Harald eines Nachts zu dem Werkelheimer hinauf und klingelte. „Was ist?!“, fauchte der Kerl, als er die Tür aufriss. „Ich …“, sagte Harald, doch der Bastler unterbrach ihn sofort. „Ich weiß, was Sie sagen wollen!“, bellte er: „Und wissen Sie, was ich darauf antworte? Dass ich mir von Ihnen nicht vorschreiben lasse, mit welcher Art von Arbeit ich mich selbst verwirkliche! Also zischen Sie ab!“

Dann schmiss der Selbstverwirklicher die Tür zu, und während das Sägen wieder begann, dachte Harald wehmütig an einen freundlichen Herrn mit Sicherheitsnadel in der Wange, der wahrscheinlich gerade in diesem Moment einer etwas verstörten englischen Lady mit einem artigen Lächeln auf den Lippen Ohrenstöpsel und eine Flasche Baldriantropfen überreichte und „God Save The Queen“ auflegte.