Stühle, die fehlen

Irgendwie arbeiten sich ja immer noch eine ganze Reihe von Bands an der Sollbruchstelle des Punk ab, ob man die verschiedenen Resultate nun Postpunk, Art Wave oder Kunsthochschulrock nennen will. Die Ausnahme-Kunstpunker Wire nahmen in den späten Siebzigern in diesem Zwischenreich eine ganz besondere Vorbildrolle ein und wurden mit ihrem Frühwerk selbst stilbildend.

Eigentlich komisch, dass so eine Übergangsmusik, wie sie etwa auf „Chairs Missing“, dem zweiten Album des Londoner Quartetts zu hören ist, dass diese Mischung aus Punk-Anfängen und dem deutlichen Willen zum elektronischen Experiment am Rand des Pop, bei der Wire nicht allzu lange verweilen sollten, im Rückblick zur Blaupause für Generationen von Musikern wurde.

Was andererseits wieder gar nicht so verwunderlich ist, als es sich, wie man mit bloßem Ohr erkennen kann, bei dieser Mischung aus Rohheit, Detailverfeinerung und zerebraler Texturenforschung um eine ziemlich perfekte Kombination handelt, um großen befreiten, zugleich höchst disziplinierten Pop. Da gäbe es weit schlechtere Vorbilder zur Auswahl. Und dass man sich als Musiker selbst in der Regel wenig dafür interessiert, einen solchen Triumph einfach zu wiederholen, braucht nachfolgende Künstler ja nicht davon abzuhalten, sich im eigenen Schaffen mehr oder minder stark an einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer Idole zu orientieren.

Wire hingegen waren höchst inkonsequent konsequent und lösten sich im Jahr 1980 erst einmal auf. Ideen seien alle, hieß es. Inkonsequent war der Schritt insofern, als sie im Lauf der Jahre immer wieder erneut zueinanderfanden und auch neue Schallplatten aufnahmen.

Doch selbst wenn sie seit den Achtzigern nie wieder wie in den Anfangsjahren klangen (ein paar Ideen waren wohl noch übrig geblieben), blieben sie dem Kunstcharakter ihrer Musik stets treu, wie sich auch optisch an der spartanisch inszenierten Covergestaltung von „Chairs Missing“ aus dem Jahr 1978 abzeichnet – ein stilisiertes Ensemble mit einer tischähnlichen weißen Fläche in der Mitte, um die herum besagte Stühle fehlen.

Vielleicht wollten sie mit diesem Bild signalisieren, dass es die Stühle, zwischen denen sie als Musiker sitzen, gar nicht gibt (auch wenn die Sitzmöbel im Englischen wohl eher den Tassen korrespondieren, die man nicht mehr alle im Schrank hat). Jetzt haben Wire ein ganz neues Album fertig, ebenfalls ohne Stühle. Wie sich das anhört, kann man am Samstag im Postbahnhof herausfinden. TIM CASPAR BOEHME

■ Wire, Postbahnhof, Straße der Pariser Kommune 8, Samstag, 20 Uhr. 20 Euro