„Fußballer waren Turner“

RUND Der Lehrer Konrad Koch hat den Fußball nach Deutschland gebracht. Zumindest im Film. Berno Bahro, Sporthistoriker, erklärt, wie es wirklich war

■ Das Vorstandsmitglied des Zentrums Deutscher Sportgeschichte, 33, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Zeitgeschichte des Sports an der Universität Potsdam. Er spielt auch Fußball.

INTERVIEW THOMAS WINKLER

taz: Herr Bahro, ein großer Kinofilm und der DFB ehren Konrad Koch als wichtigsten Pionier des Fußballs in Deutschland. Ist das gerechtfertigt?

Berno Bahro: Sicherlich war er ein wichtiger Pionier. Er hat als Erster die Regeln ins Deutsche übersetzt und sehr viel publiziert, um den Fußball durchzusetzen – wenn auch eher die Variante des Spiels, die wir heute als Rugby bezeichnen würden. Aber schon die Idee, das Spiel an seiner Schule einzuführen, hatte der Lehrer Koch wohl nicht selbst, sondern sein Schwiegervater, der als Militärarzt in England gearbeitet hat. Und den Ball, hinter dem er die Schüler des Braunschweiger Martino-Katharineums ab 1874 her rennen ließ, den hatte sein Kollege, der Turnlehrer August Hermann, organisiert. Koch selbst reiste erst sehr viel später nach England.

DFB-Präsident Theo Zwanziger hat trotzdem gesagt, Koch hätte „Weitblick“ bewiesen. Wusste Koch, was er da angestoßen hat?

Ganz bestimmt nicht. Koch wollte eigentlich das Schulturnen reformieren. Damit war er damals nicht allein: Das Schulturnen nach Adolf Spieß war militärisch, total formalisiert – und hat den Schülern wahrscheinlich überhaupt keinen Spaß gemacht. Da waren Cricket und Fußball in der Rugbyversion Alternativen.

Dazu musste er den Fußball gegen die Turner durchsetzen?

Ja und nein. Tatsächlich waren die meisten Fußballpioniere eigentlich Turner. Die wollten raus aus den staubigen, engen, dunklen Hallen, und wieder zurück zur Bewegung an frischer Luft im Sinne von Jahn. Dem stellten sich die Vertreter des militärischen Turnens entgegen und verunglimpften den Fußball als „Fußlümmelei“ oder „englische Krankheit“. Aber die Fronten verlaufen nicht klar: Da stehen nicht auf der einen Seite die erzkonservativen Turner und auf der anderen Seite die reformfreudigen Fußballer. Auch die preußische Regierung hatte erkannt, dass das mit dem Schulturnen so nicht weitergehen kann, weil sie bei der Sichtung von Rekruten festgestellt hatten, dass die zum großen Teil gar nicht mehr wehrfähig waren. Also wurden viele Initiativen gestartet, das Schulturnen zu reformieren. Eine war der sogenannte Spiele-Erlass, mit dem eine Förderung der Turnspiele verfügt und ausdrücklich auf das positive Braunschweiger Beispiel verwiesen wurde – dadurch ist Koch im Kaiserreich erst so richtig berühmt geworden.

Also war Koch doch der wichtigste Pionier?

Er war einer von vielen. Am wichtigsten ist vielleicht seine Bedeutung als erster Geschichtsschreiber des Fußballs in Deutschland. Auch wenn vieles, was er geschrieben hat, absurd war. So hat er einfach erfunden, es hätte in Deutschland Frühformen des Fußballs gegeben. Damit wollte er vor allem das Argument der Gegner entkräften, es handele sich um die Übernahme eines englischen Spiels. Als Altphilologe hat er auf die Antike Bezug genommen und konstruiert, der Fußball wäre vom antiken Griechenland über den italienischen Calcio und Deutschland nach England gekommen – und von dort wäre der Fußball dann wieder zurückgewandert. Dass es dazu keine Quellen gibt, begründet er damit, dass die allesamt im Dreißigjährigen Krieg vernichtet worden wären. Das ist natürlich Quatsch.

Im Film wird Koch auch zum Sozialrevolutionär stilisiert.

Ein interessantes Phänomen seiner Zeit ist jedenfalls, dass das aufstrebende Bürgertum zum modernen Sport ging, während das Turnen eher bei den Unterschichten beliebt blieb. Die preußischen Prinzen haben nicht geturnt, die waren sportbegeistert, die sind gelaufen, haben Tennis gespielt. Dieser Tendenz wollte Koch entgegenwirken und mit seinen Spielen die Gymnasiasten wieder zurück zum Turnen bringen.

Fußball war also damals keine Sport für Proletarier?

Der Mann: Konrad Koch (1846 bis 1911) gilt als der Mann, der den Fußball in Deutschland einführte. Er unterrichtete als Lehrer für Deutsch und alte Sprachen am Braunschweiger Gymnasium Martino-Katharineum. Im Herbst 1874 warf er einen Ball zwischen seine Schüler – das erste Fußballspiel auf deutschem Boden.

Der Film: „Der ganz große Traum“ mit Daniel Brühl als Fußballpionier geht mit den historischen Gegebenheiten allerdings sehr frei um und lässt Koch schon vorab von der klassenübergreifenden Funktion des Fußballs träumen – historisch wenig korrekt, aber ganz im Sinne des Deutschen Fußball-Bundes (DFB), der den Film unterstützt und Koch unlängst zu dessen 100. Todestag mit einer Feierstunde würdigte.

Das Buch: „Der Fußball-Lehrer – Wie Konrad Koch den Ball ins Spiel brachte“ von Malte Oberschelp, Verlag Die Werkstatt.

Das wurde er erst im 20. Jahrhundert. Mit dem Ersten Weltkrieg wird der Fußball massenwirksam. Da war eigentlich geplant, die Soldaten in den Gefechtspausen national und kräftigend turnen zu lassen. Aber hinter der Front einen Barren aufzubauen, das stellte sich als kompliziert heraus. Es war einfacher, einen Ball in die Menge zu werfen. Die Soldaten lernten den Fußball kennen, und nach dem Krieg explodierten die Mitgliederzahlen der Fußballvereine.

Koch war auch ein entschiedener Gegner der Professionalisierung des Fußballs, die in England bereits 1885 einsetzte. Ist er mitverantwortlich dafür, dass der Profifußball in Deutschland erst so spät eingeführt wurde?

Da ist Koch nicht der Hauptschuldige. Er hat den Wettkampf, das Rekordstreben und das Profitum abgelehnt. Aber das haben damals sehr viele. Das war eine deutsche Tradition: Bei den Turnern gab es Wettkämpfe nur in Ausnahmefällen, bei Turnfesten beispielsweise.

Erklärt das die langjährige gesellschaftliche Ächtung des Profifußballs in Deutschland?

Es liegt vor allem am Steuerrecht, dass der DFB das Profitum so lange nicht eingeführt hat. Der Fußball wäre dann nicht mehr steuerlich begünstigt als Bildung und Erziehung gelaufen. Der DFB hat es aber geschafft, bis in die Dreißigerjahre Fußball als Teil der Nationalerziehung zu propagieren. Ab 1932 gibt es dann Bemühungen einiger großer Klubs, eine vom DFB unabhängige Profiliga aufzubauen. Die Klubs stehen vor der Abspaltung, der DFB wird der Lage nicht mehr Herr und tritt die Flucht nach vorn an: Der Verband geht zum Reichskanzler und verspricht Hitler die Goldmedaille bei den Olympischen Spielen 1936. Im Zuge der Gleichschaltung bekommt der DFB für dieses Versprechen die Fußballhoheit. Das Profitum wird im Keim erstickt.