BETTINA GAUS MACHT
: Schotten dicht

Europa spielte zu lange bei der Nachrichtensperre in Libyen mit. Und will jetzt keine Zuflucht sein

Tagelang gab es aus Libyen keine aktuellen Fernsehbilder vom Geschehen auf den Straßen und keine Korrespondentenberichte. Die Abschottung funktionierte flächendeckend, auch wenn dem Regime in anderer Hinsicht die Kontrolle immer mehr entglitt. In den Zentralredaktionen der Fernsehsender, ungeübt mit einer solchen Situation in Zeiten des Internets, führte das zu einer seltsamen Reaktion: Man könne den Wahrheitsgehalt bestimmter Informationen leider nicht überprüfen, weil es ja „nur“ Augenzeugenberichte gebe und keine Journalisten vor Ort.

Das ist eine entlarvendes Selbstverständnis des Berufs und zeugt von grandioser Arroganz. Es ist immer erfreulich, wenn auf die eingeschränkte Zuverlässigkeit der eigenen Quellen hingewiesen wird, und das dürfte gern viel häufiger geschehen, auch an undramatischen Orten. Auf Parteitagen beispielsweise. Aber wer meint, ein einziger Reporter oder eine einzige Kamerafrau von BBC oder RTL sei wertvoller als ungezählte Augenzeugenberichte, nimmt den eigenen Berufsstand zu wichtig.

Zwei voneinander unabhängige Quellen, die dasselbe erzählen, liefern die Grundlage für eine Nachricht. Das ist eine alte Journalistenregel. In Libyen gab es nicht zwei, sondern hunderte von Informanten: Flüchtlinge, Leute, denen ein Telefonat oder die Übertragung eines Videos ins Ausland gelungen war, ausgereiste, internationale Geschäftsleute. Wer unter diesen Umständen den Wahrheitsgehalt der Lageberichte noch anzweifelte, betrieb, wenngleich ungewollt, das blutige Geschäft des Regimes.

Da es keine Aufnahmen aus Libyen gab, malte sich der Kopf eigene Bilder zu den Nachrichten. Und plötzlich zeigte sich, welch ungeheure Wirkung die friedliche Revolution in Ägypten entfaltet hat, weit über das Land und den Tag hinaus. Wenn von Angriffen auf Demonstranten in Libyen die Rede war, dann standen einem die freundlichen, differenzierten, höflichen Menschen auf dem Tahrir-Platz in Kairo vor Augen, und man stellte sich vor, diese wären von der Luftwaffe bombardiert worden. Plötzlich waren gar keine Bilder aus Tripolis mehr nötig, um das Grauen ins Wohnzimmer zu transportieren.

Was für ein Paradigmenwechsel. Seit der islamischen Revolution in Teheran 1979, also seit über 30 Jahren, gab es fast immer Grund zur Sorge, wenn arabische Menschenmengen auf dem Bildschirm auftauchten. Sie verbrannten Fahnen, bedrohten Leute, die anderer Meinung oder anderen Glaubens waren als sie selbst, schienen fanatisch und gewaltbereit zu sein. Natürlich sagte einem der Verstand, dass dieses Verhalten nicht repräsentativ war für die gesamte Bevölkerung. Aber der Bauch ließ sich davon nicht immer überzeugen.

Fast über Nacht hat die arabische Welt ein anderes Gesicht bekommen. So unbeirrt gewaltfrei wie die Demonstranten in Kairo ist seit Ghandi nicht mehr Widerstand geleistet worden. In Ägypten hat das, wenigstens vorläufig, ein gutes Ende genommen. Die Verhältnisse in Libyen sind in mehrfacher Hinsicht nicht vergleichbar, und die in Tunesien, im Jemen, in Bahrain sind jeweils wiederum ganz andere. Aber wenn jetzt die Angst vor Flüchtlingsströmen aus Nordafrika beschworen wird, dann sollte sich Europa, das auf die Wahrung der Menschenrechte so stolz ist, wenigstens eingestehen, wem es da die Zuflucht verweigern will. Und wen wir in den letzten Jahren als Gefängniswärter bezahlt haben.

■  Die Autorin ist politische Korrespondentin der taz Foto: A. Losier