Steinalt-neue Kunst

POST-PUNK Die britischen Wire klangen im Postbahnhof im besten Sinne wie vor 33 Jahren und wuchsen dennoch weit darüber hinaus

Der Himmel war voller Discokugeln, aber das störte sie nicht. Auch hatte „Beginn: 20 Uhr“ auf den Karten und den Ankündigungen gestanden, was sie allerdings fast wörtlich nahmen: Zu bester Primetime am Samstagabend, Berlin, Postbahnhof, die kleine Halle, traten Wire auf.

Wire gründeten sich 1976 als Punk-Rock-Formation in London, und nach eigenen Angaben haben sie 1978 zum ersten Mal in Berlin gespielt; vermutlich aber war außer ihnen niemand in der Halle, der schon damals zugegen gewesen war. Der Altersdurchschnitt des Publikums war akzeptabel, die meisten im Publikum waren vermutlich jünger als die drei Gründungsmitglieder auf der Bühne. Und es machte sich natürlich bemerkbar, dass Wire vor zwei, drei Jahren frischen Wind bekommen haben, weil sich zahlreiche neue Bands explizit auf sie bezogen. Von LCD Soundsystem über The Rapture bis zu den Foals.

Was auch kein Wunder ist, denn Wire sind nie beim Punk Rock stehen geblieben, sondern haben auf ihre sperrige Art mit am Musikbegriff „New Wave“ gearbeitet. Und davon spürte man an diesem Samstagabend noch jede Menge: Mal verbreiteten sie stoisch Monotonie, die nur durch den Sprechgesang von Colin Newman variiert wurde, so als ob sie gleichzeitig eine kalt-brutale Version von Krautrock und/oder Disco spielen wollten. Mal zersägten sie munter ihre eigenen Akkordpassagen, die es tatsächlich auch gab, und steigerten sich in Lärmattacken hinein, die Sonic Youth vergessen ließen. Der Himmel hing voller Discokugeln, aber Wire machten nicht einmal Punk Rock. Sie machten Kunst.

Ja, sie machten Kunst: Denn so wirkte das plötzlich. Da standen drei ältere Herren auf der Bühne, zwar gut durchtrainiert, aber deutlich älter, und spielten etwas, was eigentlich eine steinalte Musik sein müsste, etwas, was sie gleichzeitig sezierten – kalt und überlegen.

Colin Newman, in weißem Hemd und mit Brille, sah dabei ein wenig aus wie ein älterer Robert Downey Jr., der einen zynischen Chirurgen spielt. Graham Lewis am Bass versuchte es zwischendurch mit einer Mütze, die ihn nach Benito Mussolini aussehen ließ, und nur der rote Plümmel konterkarierte diesen Eindruck. Robert Grey schien sein Schlagzeug als interessanten Hometrainerersatz zu verstehen, Musik als Training für den Körper.

Dass zwischen dem Auftritt 1978 und dem von Samstag ungefähr 33 Jahre vergangen waren, merkte man allerhöchstens am Aushilfsgitarristen Matt Simms, der ungefähr dieses Alters war und passend Jesusmähne trug. Das einzige Gründungsmitglied, das fehlte, war übrigens Bruce Gilbert, was man auch daran merkte, dass es keine quietschigen Synthiesounds gab. Dafür krönte Newman die Zugabe mit einem Einsatz seines IPhones, das er fachgerecht an die Tonabnehmer seiner Gitarre hielt. Digitaler Krach. Wireless Wire im 21. Jahrhundert.

Gut war es also, erstaunlich, weil eben keine Nostalgienummer oder die x-te Wiederkehr einer längst begrabenen Jugendkultur. Denn: Trinkgeld ist kein Punk Rock, monatelange Studiosessions sind kein Punk Rock, Hörerwünsche aus dem Publikum sind es erst recht nicht. „We don’t do requests, we’ve never done that“, sagte Newman, also gab es weder „12 X U“ noch etwa „I am the Fly“.

Ob Wire auf Platte noch funktionieren oder ewig auf ihre ersten beiden Platten, die Klassiker „Pink Flag“ und „Chairs Missing“, reduziert bleiben, was ihre Bedeutung für die populäre Untergrundmusik betrifft, lässt sich so nicht beantworten. Sie veröffentlichen ja immer noch Neuwerk, zuletzt die CD „Red Barked Tree“. Live jedenfalls sind sie tatsächlich immer noch Avantgarde. Im Sinne von: weit vorne.

RENÉ HAMANN