Adi Lambke will’s wieder wissen

AUS DEM WENDLAND THOMAS GERLACH
UND ANDREAS SCHOELZEL (FOTOS)

„Ich habe 365 Krankheiten,“ behauptet Adi Lambke, „jeden Tag eine andere.“ Der 76-Jährige thront lächelnd in seinem Passat: rote Mütze auf dem Kopf, weißer Bart im Gesicht, Brille auf der Nase – die Krücken hat er auf den Rücksitz geschmissen. Im Autoradio läuft NDR1, Radio Niedersachsen. Adi Lambke sitzt auf der Beifahrerseite, nicht nur weil ihm das Gehen schwerfällt und die Ohren nicht mehr so recht wollen. Auch die Augen sind trübe geworden. Ein Auto wird er nicht mehr steuern. Einen Trecker auch nicht. Leider.

Mit seinem Trecker ist Adi Lambke berühmt geworden. 1996, als ihn die Polizei regelrecht aus seinem Gefährt herausgeprügelt hat, liefen die Bilder von dem blutüberströmten wendländischen Bauern in den Hauptnachrichten. Da war allen klar: Der Atomstaat schreckt vor nichts zurück. Bauer Adolf Lambke, genannt Adi, aus dem Dörfchen Jamel bei Lüchow wurde zur Ikone der Anti-Atomkraft-Bewegung.

Die Ikone mag inzwischen an vielen Krankheiten leiden, Überdruss am Castor-Protest. Deswegen ist Lambke mit seiner Frau heute nach Metzingen bei Dannenberg gefahren. Hier, wo zwischen die Höfe ein ganzer Acker passt, dicht an der Bahnstrecke, über die der Castor kommen wird – sicher kommen wird –, will er ein bisschen protestieren. Es soll, wie Lambke das nennt, „der Polizei ein bisschen Ärger bereitet“ werden. Seine Frau ist vorgelaufen, sie guckt mal, was läuft, trifft Bekannte von der Bäuerlichen Notgemeinschaft, und Adi Lambke schaut durch die Windschutzscheibe zu, wie sich die Straße füllt.

Keine Kiffer – Bauern

Die Notgemeinschaft ist so etwas wie ein Pfahl auf dem platten wendländischen Acker. Als 1977 entschieden wurde, Gorleben zum „nationalen Entsorgungspark“ für Atommüll zu machen, hat sich dieser Zusammenschluss der wendländischen Bauern gegründet, die gegen das Endlager sind. Keine langen Haare, keine verfilzten Bärte, keine Kiffer – wenn es die Bauern nicht gäbe, hätte so mancher am Fernseher daran geglaubt, dass es „unappetitliche Chaoten“ seien, die da protestierten, wie es der frühere CDU-Innenminister Manfred Kanther behauptete. Wie oft Adi Lambke protestiert hat, kann keiner zählen. Nur eines ist klar: Angefangen hat alles am 22. Februar 1977, als der damalige niedersächsische CDU-Ministerpräsident Ernst Albrecht Gorleben als Standort für das Endlager verkündete. Drei Wochen später gab es die erste Demonstration in Gorleben, 20.000 kamen.

Längst sind die Traktoren Symbole des Protests geworden. Stark und gutmütig wie Tanzbären, sind sie immer mit dabei – bis vor ein paar Jahren noch mit Lambke hinterm Lenkrad. Wenn man ihm in seinem Auto zuhört, an dem gerade die Karawane der Jugendlichen vorbeizieht, liegen Stolz und Frust dicht beieinander.

Seine Augen leuchten, wenn er auf das Thema Beton zu sprechen kommt. Mit den Mischmaschinen der Bauern und den jungen Leuten, die sich dann an die Klötze ketten, die wiederum an den Treckern hängen – damit lasse sich was anstellen. Wenn die Rede auf Staat und Polizei kommt, poltert er los. Den Bauern würden von der Polizei stets die Trecker stillgelegt, „und“ – jetzt schlägt er sich bei jedem Wort aufs Knie – „die Bauern haben nicht geklagt! Das liegt uns nicht so.“ Lambke selbst hat reichlich Erfahrung vor Gericht gesammelt, er hat manchen Advokaten kennengelernt. Einer von den damals Jungen hieß Schröder. Gerhard Schröder.

Lambke setzt seine Hoffnung inzwischen auf die ganz Jungen, die nachwachsen wie Luzerne im Sommer. „Elf junge Leute“, und jetzt strahlt er schon wieder, „elf haben sich im vorigen Jahr an meinen Trecker gekettet!“ Das war eine Aktion nach seinem Geschmack. „Ja, es ist Jugend gewachsen, die auch kämpfen will. Nich’, Elli?“ Lambke dreht sich zu seiner Frau um. Sie ist zugestiegen und nickt. Gleich wird sie den Wagen in den Wald lenken, den Jugendlichen hinterher, wie Großeltern manchmal den Enkeln folgen.

Vieles, was mit Gorleben zu tun hat, setzt sich inzwischen aus Erinnerungen zusammen – wie der Kampf um Adi Lambkes Trecker. Wenn eine Bewegung ins dreißigste Jahr geht, ist das eben so. Dann schreibt die örtliche Zeitung schon mal: „Die Schüler-Demo, traditionell der Auftakt zur heißen Protestphase, verlief ohne Zwischenfälle.“ Oder: „Pastoren kehren zum Castor-Einsatz ins Kreisgebiet zurück“, gerade so, als thematisiere man den alljährlichen Vogelzug überm Wendland.

Danke, bis zum nächsten Mal

„Verlässliche Ereignisse“ – Auftaktkundgebung, Sitzblockade und, natürlich, Trecker. Wolf-Rüdiger Marundes Hof liegt nur vier Kilometer vom Zwischenlager Gorleben entfernt. Ihn einen Freund der Bauern zu nennen ist das Mindeste. Marunde ist Graphiker und hat mit seinen menschelnden Schweinen, seinen Hühnern und Gänsen als liebevollen Gesandten der wendländischen Dörfer den Weg in die großen Illustrierten gebahnt. Er ist auch schon lange in der Notgemeinschaft, besorgt den Web-Auftritt und berät in Sachen Medien. Allerdings seien die Bauern eher beratungsresistent, das sagt er gleich.

Das Addieren der Minuten und Stunden, die der Castorzug stehen muss, das immer neue Gießen von Betonquadern, das Blockieren von Gleisen und Straßen, um den Transport zu verzögern – das alles werde ausgekostet wie der erwartete Sieg der eigenen Fußballmannschaft. „Give me five. Einmal abklatschen nach dem Tag X. Und bis zum nächsten Mal“, so hat Marunde seine Beobachtungen in einem Text zusammengefasst. Überschrift: „Wendländische Rituale“. Wolf-Rüdiger Marunde führt in sein Atelier hinauf. Er zählt auf: Seit Anfang der Siebzigerjahre ist er im Widerstand, „noch vor Brokdorf“. Da komme eine Menge Lebenszeit zusammen. Wenn man um die fünfzig ist, eröffnet man auch solche Bilanzen. Die einen machen „Latschendemo“, die Bauern schmeißen ihre Trecker an, er selbst habe ja oft auf einem gesessen. Am Ende werden die Castoren ein paar Stunden gestoppt. Und solche Dinge gehen dann als Erfolgsmeldungen ins Land. Trotzdem glauben viele, dass die Castoren längst im Salzstock von Gorleben stecken. Auch das Interesse der Medien gehe zurück – keine neuen Bilder mehr.

Das Telefon klingelt. „Ja“, sagt Marunde. „Mit Pfefferspray?“, fragt er. Er kommt zurück. Es gab eine Blockade. Die Polizei hat geräumt. Marunde soll die Nachricht ins Netz stellen, wie er es bisher jedes Jahr getan hat. Er erzählt, dass ihm bei genau solch einer Arbeit seine Zweifel gekommen seien. „Ich mach das nicht mehr,“ sagt er. Außerdem gebe es ja für Informationen den zentralen Castor-Ticker. Neue Protestformen müssten her, meint er. Wie wär es denn, wenn mal kein einziger protestieren würde und die Straßen und Dörfer wären grün von Polizei? „Na ja, das geht sowieso nicht.“ Er winkt ab.

Diesel, Gummi, Mist

Am Abend, der Castorzug ist gerade aus La Hague abgefahren, ist es wieder so weit. An der Kreuzung beim Dörfchen Pudripp kommen sie aus allen vier Richtungen: die Trecker der Notgemeinschaft. Es lärmt, stinkt nach Diesel, Gummi und Mist. Männer, die Hände in den Taschen, stehen herum. Die Straße ist zu, und außer dass eine Mutter in ihrem Auto ausrastet, weil ihr Kind allein zu Hause ist, bleibt alles ruhig. Am Samstagmorgen meldet Radio Niedersachsen, dass die Polizei letzte Nacht in Pudripp etwa vierzig Trecker der Notgemeinschaft beschlagnahmt hat.

Die Großdemonstration in Gorleben droht ins Wasser zu fallen, es regnet. Dennoch sind mehrere tausend Castorgegner aus ganz Deutschland gekommen, die Polizei spricht von 2.000 Teilnehmern, die Veranstalter schätzen: 7.000. Die Erleichterung, auch der Stolz auf die gute Resonanz ist den Rednern anzumerken. Die „Zaunkönige“ aus Münster heizen mit ihrer Musik so ein, dass der Bühnenwagen wackelt. „Beim nächsten Lied geht es um die Welt, die man retten kann. Herrliche Idee, was?“, ruft der jugendliche Sänger herunter. Die Alten im Publikum, mit ergrautem Haar, schauen wehmütig und stoßen mit dem Regenschirm den Takt. Die Jungen hüpfen. Die Nachricht „Der Castor ist in Frankreich zwei Stunden aufgehalten worden!“ wird mit Jubel quittiert. Die Clownsarmee, ein Trupp mit geschminkten Gesichtern und in alten NVA-Mänteln, stellt sich auf und wird von den Kamerateams dankbar gefilmt.

Zwischendurch werden mit der Digitalkamera Erinnerungsbilder geschossen, längst auch von manchem Polizisten. Jochen Stay, die zentrale Figur der Widerstandsbewegung „X-tausendmal quer“, steigt auf die Bühne: „Ja, liebe Freundinnen und Freunde, dreißig Jahre Gorleben, der zehnte Castor-Transport rollt, wir haben Kanzler, Innenminister und Ministerpräsidenten kommen und wieder gehen sehen – aber wir, wir sind immer noch da!“ Die Reminiszenzen werden auch bei ihm immer länger. Dann lädt er zur großen Sitzblockade an der Verladestation ein, zu der sich Prominenz angekündigt hat. „Reinhard Bütikofer will trotz Blockadeverbots auf die Gleise.“ Gejohle, keine Buhs. „Bütikofer ist mir willkommen“, sagt Stay, „er zeigt, das er eines begriffen hat: Wenn es Erfolge gibt, dann nur auf der Straße, nicht im Parlament!“ Und als würde er Wolf-Rüdiger Marundes Zweifel kennen, beschwört er seine Zuhörer: „Den Erfolg der Blockade-Aktion messen wir nicht in Minuten, wir wollen keinen sportlichen Wettkampf, sondern eine politische Aktion!“

Als Martin Ott, ein Schweizer, auf die Bühne steigt, bekommt auch die Bäuerliche Notgemeinschaft, die auf ihren Treckern herangerollt ist, ihre Anerkennung. Ott ist Bauer, unter seinem Acker soll demnächst das schweizerische Endlager gegraben werden. „Am meisten habe ich Freude an meinen Berufskollegen“, sagt er ins Mikrofon, „dass das Ganze so getragen wird von den Bauern! Als ich hierhergefahren bin, habe ich scharenweise Trecker – ‚Trecker‘ sagt man doch hier? – so viele Trecker gesehen!“ Adi Lambke, der irgendwo unten in der Menge steht, dürfte bei diesen Worten sehr gelächelt haben.