Warum sind die Grünen so ängstlich und sprachlos?

Wollen die Anhänger der Grünen Partizipation – oder nur ihre Ruhe? Vermeidet die Parteiführung echte Diskussionen? Wo sind anschlussfähige Milieus nach dem Ende von Rot-Grün? Franz Walter, Grünen-kritischer Politologe, und Daniel Cohn-Bendit, Vorsitzender der Grünen-Fraktion im EU-Parlament, im Streitgespräch

MODERATION PETER UNFRIED

taz.mag: Wie sehen Sie die Perspektiven der Grünen, Herr Walter? Retten sie die Welt? Deren Anhänger haben ja immer noch überhitzte Erwartungen.

Franz Walter: Ganz falsch. Überhitzte Erwartungen an Parteien hat kaum noch jemand und an die Grünen auch nicht mehr. Die Grünen werden jedenfalls nicht verschwinden, wie man vor ein paar Jahren noch gesagt hat, als man von Generationenpartei gesprochen hat. Sie sind die Motoren oder die Fermente dessen, was man Wissensgesellschaft nennt. Das Know-how, das in den nächsten Jahren wichtig wird, ist bei den Grünen oder ihren Anhängern. Aber sie können nicht den Furor verkörpern, wie in den 80er-Jahren. Das will aber auch keiner mehr von denen, die im Moment Grün wählen.

Wo sehen Sie die Grünen, Herr Cohn-Bendit?

Daniel Cohn-Bendit: Wir haben im Moment zwei Volksparteien, die versuchen, die Mitte der Gesellschaft zu repräsentieren, das sind die CDU und die SPD; die eine ist sozial-neoliberal, die andere neoliberal-sozial. Es gelingt ihnen immer weniger. Auf der anderen Seite haben wir drei Orientierungsparteien: die FDP als radikale neoliberale Wirtschaftspartei, die Linke als traditionelle sozialdemokratische Partei und die Grünen als sozialökologische Orientierungspartei. Von den dreien haben die Grünen durch das Umweltthema ein übergreifendes Thema, das die Gesamtgesellschaft im Moment auch sehr beschäftigt. Das hat sie wieder ins Zentrum der politischen Auseinandersetzung gestellt, und das erklärt ihre personell unerklärliche Stabilität nach dem Abgang von Joschka Fischer. Das ist jetzt die Herausforderung für die Grünen: Sind sie in der Lage, Antworten zu geben, die einen Teil der Gesellschaft provozieren, und zwar im positiven Sinne? Orientierung als gesellschaftliche Herausforderung.

Wir reden jetzt von den Kadern oder von einem Grün wählenden Teil der Gesellschaft?

Cohn-Bendit: Die Kader? Ich weiß nicht, wer die Kader sind. Es geht darum, wie die Gesamtpartei sich artikuliert und sich gesellschaftlich konfrontiert. Eine richtige Kritik ist, dass die Grünen wieder lernen müssen, den Diskurs, den sie haben, auch gesellschaftlich auszutragen, und zwar dezentral, in Städten und in Regionen. Die Definition ihrer Tätigkeit durch mehr oder weniger gut inszenierte Parteitage und auch zentrale, sagen wir, Kundgebungen oder Veranstaltungen, das reicht nicht.

Herr Walter, für Sie sind die Grünen-Wähler Besitzstandswahrer, die nur noch schwer für etwas zu mobilisieren sind.

Walter: In den frühen 80er-Jahren waren rund 75 Prozent der Wähler der Grünen noch in der Ausbildung. Radikales Auftreten, das Unerreichbare zu fordern, lohnt sich da, weil man dann damit neue Themen anschneidet, die dann auch eigene Jobs möglich machen. Wenn sie 1983 zwischen 20 und 25 waren, 1998 zwischen 35 und 40, dann sind sie jetzt in der Mitte des Alters.

Cohn-Bendit: Oder älter.

Walter: Sie sind ja mit dem Fischer fast eine Rarität bei den Kadern oder auch bei den Anhängern der Grünen. Die meisten sind irgendwann in den frühen 60er-Jahren geboren. Man hat Beruf, Kinder, womöglich noch Eltern, die man pflegen muss. Dann noch eine zweite Liebesbeziehung …

Man ist körperlich, zeitlich und geistig ausgelastet.

Walter: Ja. Es gibt zwei Phasen im Leben, die ein bisschen offener sind, wo man etwas Neues versuchen kann, das ist die Phase, in der die Grünen in den frühen 80er-Jahren waren. Und dann wieder anders, gemäßigter, wenn man aus dieser Rushhour des Lebens herauskommt. Aber wenn die Grünen jetzt zu einer Demonstration vor Brokdorf aufrufen, in einer kalten Winternacht, die Bandscheiben schmerzen, der Rheumatismus quält, da werden wir hier natürlich nicht mehr dabei sein.

Dann müsste Parteichef Bütikofer allein blockieren.

Walter: Bütikofer würde dabei sein?

Cohn-Bendit: Die europäischen Grünen haben unlängst vor zehn russischen Botschaften demonstriert, in ganz Europa, nach der Ermordung der Journalistin Politkowskaja.

Eine Massendemo?

Cohn-Bendit: Es waren nicht viele, zugegeben. Ihre Beschreibung, Herr Walter, ist zum Teil richtig. Und deswegen ist es die Aufgabe für eine Partei, die nicht mehr die Kraft des Entstehens für sich buchen kann, eine Erneuerung des politischen Handelns zu definieren. Die Themen sind da.

Was meinen Sie?

Cohn-Bendit: Mich interessiert, was Ségolène Royal im Moment in Frankreich macht. Die Sozialistische Partei hatte ja ähnliche Probleme. Und Royal schafft es, ein irrsinniges Erneuerungspotenzial in Gang zu setzen, mit jungen Menschen, die sich engagieren. Sie hat in einer ganz klugen Weise die Frage des Internets nicht instrumentalisiert, sondern sich dieser Vernetzungsoption bedient und hat das Problem der partizipativen Demokratie als zentralen Inhalt der Erneuerung der Demokratie benannt. Das Problem der Grünen heute ist, dass sie auf dieser Ebene sprachlos sind.

Walter: Sie müssen die Frage der Partizipation im Zusammenhang mit Lebensverhältnissen sehen. Schauen Sie: Meine drei Kinder sind alle groß und aus dem Haus. Ich spüre, dass man jetzt mehr Möglichkeiten und einfach mehr Zeit hat. In den zwanzig Jahren, als sie da waren, kann man nicht ständig in irgendeiner Initiative mitarbeiten. Da muss man zu Hause präsent sein. In einer solche Phase befinden sich, glaube ich, etliche Grüne.

Das Geld fürs gute Leben will auch verdient sein.

Walter: Ja, das ist die Generation Tinnitus oder die Generation Hörsturz. Der Beruf ist hart, sie sind ausgebrannt. Andererseits ist es fast ein Gen bei vielen Grünen-Anhängern, dass sie diese Partei wählen, aber sehr wenig mitmachen. Sie haben ja nun auch verdammt wenig Mitglieder. Es ist im Grunde eine fast klassische Honoratiorenpartei. Hochgebildetes, kritisches Arte-Publikum. Die Partei soll spannend sein, wechselhaft, aber doch auch professionell und dementsprechend etwas Berechenbares haben. Und selbstredend will man – eigentlich – keinen Personenkult.

Der ist ja nun überwunden.

Walter: Aber dann kommt es eben doch darauf an, Repräsentanten zu haben, die diesen Charme verkörpern und diese Aura von Unkonventionalität. Leute, die auch die Fähigkeit haben, das, was sie tun, zu reflektieren und die Brüche und Veränderungen zu begründen. Das ist das, was Sie, Herr Cohn-Bendit, immer gut hinbekommen haben. Und die Partizipation wird ab 2015 zurückkommen. Aber in den nächsten fünf bis zehn Jahren ist das eine schwierige Geschichte.

Cohn-Bendit: Die Teilnahme an der Partei muss sich grundsätzlich verändern. Was mich geärgert hat, in der ganzen rot-grünen Regierungszeit, ist die Unfähigkeit der Grünen, ihre Politik zur Diskussion zu stellen. Das muss Ausdruck unserer Stärke sein. Doch die kleinste Diskussion wurde von den einen als totale Infragestellung der Politik verstanden, anstatt damit transparent zu machen, dass Rot-Grün in der Regierung ein schwieriger Prozess war. Es braucht die Fähigkeit, die eigene Entwicklung transparent zu machen und durch das Internet eine neue Art von Partizipation zu organisieren. Da sind die Grünen ganz schwach. Aber das wird in den nächsten Jahren viel entscheidender sein als die Frage, ob es Jürgen Trittin oder Renate Künast wird.

Walter: Man muss das aber nicht nur technisch organisieren. Man muss den Partizipationswillen auch dann durchhalten, wenn eine Diskussion unbequem ist. Meine Erfahrung mit den Grünen ist da negativ.

Welche Erfahrung ist das?

Walter: Ich habe mich breitschlagen lassen, mich mit Statements an diesem Zukunftskongress im letzten Herbst zu beteiligen. Ich bekam dann suggestive Fragen, die, ich muss schon sagen, auf Lobhudelei hinausliefen, und zwar so simpel, wie ich es schon lange nicht mehr erlebt habe.

Woher kamen die Fragen?

Walter: Die kamen aus dem Büro von Herrn Bütikofer, dem Parteivorsitzenden. Es hieß im Einladungsschreiben, man wolle eine offene und kontroverse Diskussion führen.

Und?

Walter: Und dann hat man die Lobhudelei nicht mitgemacht, und dann kam der Beitrag natürlich auch nicht rein.

Woher kommt die Verklemmtheit?

Walter: Das weiß ich nicht. Es ist aber auffällig: Wenn man heute als Politikwissenschaftler von Leuten aus einer Fraktions- oder Parteispitze eingeladen wird, dann ist es bei den Sozialdemokraten schnell so, dass die sagen: Ach, so jung kommen wir nicht mehr zusammen, lass uns ein Pils zischen. Und nach einer Viertelstunde erzählen die einem die unanständigsten Sachen über Fraktionskollegen, was mitunter natürlich auch abstoßend ist.

Und die Grünen?

Walter: Der Grüne, der einen einlädt, trinkt klischeeadäquat Mineralwasser, ist ständig auf der Lauer, beherrscht sich, sagt gar nichts, damit er keinen Fehler macht. Ich erlebe da eine extreme Überbeherrschung aller Emotionen.

Cohn-Bendit: Ich habe das verstanden. Die Einladung nach Brüssel zur Grünen-EU-Fraktion steht – mit dem besten europäischen Wein. So.

Unanständige Erzählungen inklusive?

Cohn-Bendit: Hinter jeder Zuspitzung ist ja ein Kern, das will ich nicht leugnen. In dem Prozess dieser Regierungsverantwortung gab es nicht nur eine Normalisierung des Grünen-Outfits, sondern auch eine Verselbstständigung des Politischen. Es gibt zwar eine offene Auseinandersetzung in der Partei, sobald man sich aber nach außen bewegt, fällt es den meisten Handelnden schwer, auszuhalten, dass sie nicht sofort akzeptiert sind. Der andere, der die grüne Position nicht teilt, hat nicht recht, sein Beitrag ist nur Ausdruck einer gesellschaftlichen Denkrealität. Da sich durchzusetzen, haben die Grünen verlernt. Es gibt bei den Grünen tatsächlich eine Angst vor der Auseinandersetzung.

Warum geben sich die Grünen so überrational?

Walter: Ich habe mich immer gefragt, ob ich es bewundern oder den Kopf darüber schütteln soll, wie diszipliniert ausgerechnet die Grünen diesen Machtverlust der letzten ein, zwei Jahre mitgemacht und sich sogar, wenn man so will, unterworfen haben – bis hin zu den Memoiren von Schröder. Da wird immer noch fabuliert, wer denn eigentlich nun das Ende von Rot-Grün entschied. War es wirklich am Ende doch Münte, oder war es Schröder? Die Grünen waren es jedenfalls offenbar überhaupt nicht.

Cohn-Bendit: Warten wir mal die Diskussion ab, wenn die Memoiren von Joschka Fischer erschienen sind.

Walter: Jaja. Also: Man kann den Wechsel von der Überleidenschaftlichkeit zu dieser Disziplin bewundern. Es kann aber auch sein, dass das, was vielleicht früher mal zu viel war, irgendwann durch Überanpassung zu wenig ist. Was die Partizipation betrifft, so hätten Grünen-Anhänger viel Wissen einzubringen, und es wäre fahrlässig, das nicht zu nutzen. Die Politik hat sich aber von Partizipation zuletzt immer mehr fortbewegt und wird in kleineren Kreisen abgeschottet, was angesichts der Komplexitäten nicht ganz abwegig ist. Aber schade ist es doch, dass Grüne nicht stärker darüber reden, wie man aus ihren früheren Partizipationserfahrungen – auch schlechten –, etwas Vernünftiges machen kann.

Cohn-Bendit: Es gibt ein Beispiel, wo die Grünen völlig danebenliegen: Offiziell wird die Koalitionsfrage nicht diskutiert, obwohl jeder grüne Stammtisch darüber räsoniert. Das ist absurd. Schwarz-Grün, Rot-Grün, von mir aus Rot-Rot-Grün, alle Optionen stehen zur Verfügung. Und anstatt die Vielfältigkeit möglicher Erfahrung aufeinanderprallen zu lassen im positiven Sinne, wird das beiseitegeschoben, bis die Parteizentrale oder der kleine Grünen-Kreis die Diskussion zusammenfasst, bevor sie überhaupt stattgefunden hat. Das gilt auch für die Palmer-Fell-Debatte neulich über den Klimaschutz.

Hans-Josef Fell will in Sachen Energie eine grundsätzliche Null-Emissions-Strategie, Reinhard Loske und Boris Palmer, der Oberbürgermeister von Tübingen, wollen Übergangswege, also lieber ein zwar fossiles, aber umweltfreundlicheres Gaskraftwerk als am Ende in der Realität noch ein Kohlekraftwerk …

Cohn-Bendit: Das müssen sie jetzt regional auch wieder aufgreifen und klären, welche Position sie einnehmen. Das gilt für viele Bereiche. Die Grünen sind ja in der ganzen Außenpolitik schachmatt. Rein nach Afghanistan, raus aus Afghanistan, sollen wir das revidieren oder nicht? Sie wissen es nicht. Gleichzeitig kucken wir nach Darfur und sind gelähmt und sprachunfähig. Deshalb fehlt es auch an großen Reden im Bundestag: Dazu muss man Klares sagen können. Und da komme ich jetzt wieder mit meinem Internet. Um Partizipation zu organisieren und rauszukriegen, wie stehen wir zu der Verantwortung, müssen wir Positionen überprüfen. Die machen das mit einer Kommission, aber sie versuchen nicht mal, ihr ganzes Potenzial zu mobilisieren. Das ist eine sehr kurzsichtige Art von Stabilisierung.

Ein Aspekt der Klärung eigener Positionen ist für einen Grünen-Wähler die Frage nach Anschlussmöglichkeiten. Die Partei sitzt im sogenannten Scharnier, es wird außerhalb der großen Koalition wohl keine Regierung ohne die Grünen geben können. Von der Illusion eines rot-grünen Projekts hat man sich verabschiedet. Aber wo sind andere gesellschaftliche Milieus, wo kulturelle Identitäten, mit denen man etwas anfangen will und kann?

Walter: Wissen Sie was? Es gibt eine Sache, bei der ich pawlowhaft wie das HB-Männchen früher in die Höhe gehe. Wenn jemand sagt: kulturelle Identität.

Cohn-Bendit: Zu Recht.

Walter: Ich kann es nicht mehr hören. Sagen die einen, machen wir doch Schwarz-Grün, dann lamentieren die anderen: Das geht kulturell nicht. Ich habe immer versucht, nachzuvollziehen, dass die Grünen gesagt haben, wie wichtig und bereichernd für eine Gesellschaft, für eine Nation die Differenz von unterschiedlichen Kulturen, Traditionen, Historien und Philosophien sei. Und dann kommt dieses Heulsusenargument vom unerträglichen kulturellen Unterschied. Genau wegen so etwas mag ich die Grünen nicht. Die erste große Koalition …

die 1968 als Reaktion auf die außerparlamentarische Bewegung die Notstandsgesetze beschlossen hat …

Walter: … schätze ich aus mehreren Gründen. Sie brachte tatsächlich die kommunistischen und linkssozialistischen Emigranten Brandt und Wehner mit den Hofsängern des Nationalsozialismus, Kiesinger und Carstens, zusammen. Das waren mehr als Kulturen. Die einen hätten die Schlächter der anderen sein können. Koalitionen haben den Sinn, ganz unterschiedliche Erfahrungen zusammenzubinden. Wenn man identisch mit sich ist, braucht man keine Koalitionen zu machen.

Cohn-Bendit: Einverstanden. Ich halte diese kulturelle Argumentation für eine der unsinnigsten, die es gibt. Wir müssen politischer werden in der Argumentation. Und weniger gefühlsgeleitet. Und im Übrigen ist das ein historischer Irrtum: Wir passen kulturell überhaupt nicht zur Sozialdemokratie.

Sie waren doch auch für Rot-Grün?

Cohn-Bendit: Ja, aber nicht, weil ich glaube, dass wir kulturell zusammenpassen. Das ist ein Unterschied wie Tag und Nacht. Die Grünen haben sich einmauern lassen, auch von den Sozialdemokraten, die sagten: ‚Ihr könnt doch nicht mit den Rechten, mit den Schwarzen … Wir müssen, denn wir machen das aus Staatsräson. Aber das ist ja nicht euer Bier.‘ Die Grünen sind heute bestimmte Milieus – meiner Meinung nach kulturelle Milieus –, es sind aber auch Affekte, also Reaktionen auf bestimmte Umweltprobleme, Armut in der Welt. Die Frage ist nicht, wer kulturell zu mir passt, diesen Anschluss suche ich in meinem Alltag, wenn ich ein Essen organisiere. Politisch muss ich mir immer die Frage stellen: Wenn ich meine, eine ökologische Wende ist heute das Entscheidende, dann muss ich sehen: Wer macht sie mit?

Keiner macht sie mit.

Cohn-Bendit: Das ist nicht wahr. Das ist nicht wahr. Selbst der neoliberale EU-Kommissionspräsident Barroso streitet mit der Bundesregierung über mehr Klimaschutz. Das heißt: Die Debatte über den Klimawandel ist im Zentrum aller politischen Parteien angekommen. Jeder weiß, dass es so nicht mehr weitergeht. Wie sie das jetzt umsetzen können, gegen die Industrie? Da haben wir ja bei der Chemie-Richtlinie in Europa gesehen, wie schwierig es ist. Aber es herrscht ein völliger Paradigmenwechsel bei den politischen Parteien, und da sind die Grünen im Zentrum der politischen Veränderungen in den Gesellschaften.

Grünen-Wähler sind laut Unterlagen kosmopolitisch, EU-freundlich, säkularisiert …

Cohn-Bendit: Stimmt leider nicht immer. In den Argumentationen zu Gentechnik oder Sterbehilfe schwingt viel Religiöses mit.

Elternsprecher, solidarisch, wollen, dass beim Fußball ihrer Kinder immer auch die Gurken gleichberechtigt teilhaben – auf Kosten des Ergebnisses. Und die Union existiert als Volkspartei nur noch wegen der Massenkundschaft auf der Schwäbischen Alb und in den bayerischen Voralpen. Wer da nicht über das Problem kultureller Gräben redet, ist etwas weltfremd.

Walter: Genau deshalb sollte ein Parlamentarier oder ein Parteiführer dieses wabernde Kulturargument nicht noch stärker machen. Es ist nicht politisch. Am Ende werden sich aber auch die Trittins flugs mit den Gegner von gestern arrangieren. Politische Eliten sind so.

Fakt ist, dass Fischer und Schröder selbst 2005 noch relativ erfolgreich einen Lagerwahlkampf inszeniert haben.

Walter: Natürlich haben wir in den 70er-Jahren die anderen auch gehasst, weil die Filbinger, Strauß und Dregger hatten, das war wichtig. Und man konnte auch im Wahlkampf 2002 immer noch drohen, dass, wenn die anderen dran sind, wir die 50er-Jahre wiederhätten und die Frauen tatsächlich hinter den Herd zurückmüssten und wir wieder staatlich verordnete Kruzifixe in unsere Wohnzimmer reinhängen müssten. Aber …

Cohn-Bendit: Aber entspricht Merkel dem Bild unserer Feinde der 70er- oder 80er-Jahre? Sie trägt ja nicht mal einen Ehering.

Walter: Richtig. Aber die Wahrnehmung der Grünen-Anhänger – und ihre Selbstverordnung übrigens – ist ganz, ganz nah bei der Linkspartei und am weitesten weg von der CDU.

Warum hat der grüne Elite-Kleinbürger nach wie vor eine hohe emphatische Nähe zur Linkspartei?

Cohn-Bendit: Es gibt eine ganz einfache Erklärung. Alle spüren, dass die Entwicklung unserer Gesellschaft in den letzten Jahren völlig ungerecht ist. Und es gibt keine inhaltliche Transzendierung dieser Tatsache, es gibt nur die ollen Kamellen. Also: Man muss halt die Steuern für die Reichen erhöhen usw. Das ist eine notwendige Symbolik. Aber man hat dieses Loch damit inhaltlich nicht gefüllt. Es gab eine Zeit, in der die Grünen nahe daran waren, diese Debatte wirklich produktiv zu führen. Das ist mit Rot-Grün zusammengebrochen. Da haben sie sich dem Satz von Schröder unterworfen, es gäbe keine Alternative. Dieser Satz ist das Ende des Politischen. Man kann sagen: Es ist richtig. Man kann sagen, es ist notwendig. Aber von dem Moment an, wo ich behaupte, es gibt keine Alternative, kann ich keine politische Diskussion mehr zulassen. Das ist der Grund, warum Leute, die von der Linken kommen, in einer solchen Unsicherheit reagieren auf politisch soziale, traditionelle Angebote.

Seit Ende der 80er werden mit dem Thema Schwarz-Grün Fantasien und Ängste erzeugt. Die Landesebene hat diese Konstellation bis heute nicht erreicht. Was ist der Grund?

Daniel Cohn-Bendit: Es war falsch, dass immer alle auf Baden-Württemberg geschaut haben. Es kommt nicht von dort, es kommt aus den Städten. Wenn es eine Erosion der traditionellen Positionen, der Werte und der Milieus in der CDU gibt, dann in Städten wie Hamburg. Deswegen gibt es Schwarz-Grün in Frankfurt.

Wie bewerten Sie die Frankfurter Koalition?

Cohn-Bendit: Ich frage die immer: Wie läuft’s? Und sie sagen: Dany, du weißt nicht, wie angenehm das ist. Wir vereinbaren etwas, und alle halten sich dran. Mit den Sozialdemokraten war das immer so, dass in der Minute der Vereinbarung die Interpretation dessen begann, was man vereinbart hatte. Das Negative ist, dass sich mit CDU und Grünen ein Wohlstandsmilieu in den Städten zusammengefunden hat.

Wie drückt sich das aus?

Cohn-Bendit: Wenn da eine Opernpremiere ist, dann finden Sie diese Milieus da. Das traditionelle Linkspartei- und das sozialdemokratische Milieu sind bei dieser Premiere nicht anwesend.

Die sind in der Kneipe?

Cohn-Bendit: Ich weiß nicht. Oper interessiert sie nicht. Mich ja auch nicht. Man kann daran aber sehen, wie sich Dinge verändert haben.

Franz Walter: Das ist eine Grünen-Perspektive. Für die CDU ist das ein Trojanisches Pferd, was Sie hier aufgebaut haben. Das Problem der CDU sind die Massen der berühmten katholischen Stammwähler im ländlichen Bereich. Und die entscheidende volatile Gruppe ist die verängstigte Arbeitnehmermitte. Die war 2003/2004 zur CDU gewechselt und 2005 dort nicht zu halten. Deswegen hat die Union bei der Bundestagswahl so furchtbar abgeschnitten. Und in dieser Gruppe sind die Ressentiments gegen eine solche primäre Premieren- und Vernissagenkultur von Grünen und CDU enorm groß.

Cohn-Bendit: Deswegen müssen die Grünen neben dem, was ich jetzt beschrieben habe, auch andere Koalitionsmöglichkeiten denken und vorantreiben. Die Grünen haben eine Funktion in einer rot-rot-grünen Koalition, sie haben eine andere Funktion in einer klassischen sozialliberal-grünen Ampel, und sie haben eine andere in der Jamaika-Ampel und eine Vierte in Schwarz-Grün.

Walter: Herr Cohn-Bendit, Sie sind tatsächlich die Neuverkörperung von Hans-Dietrich Genscher.

Cohn-Bendit: Ist das eine Beleidigung?

Walter: Nein, das ist klassisches Genscher-Denken. Ein elitäres Denken und ein vollkommen rationales Denken. Das ist raffinierte, wahrscheinlich auch moderne Koalitionspolitik. Das Verrückte ist, dass diejenigen, die unterhalb dieser Sphäre sind, tatsächlich manchmal auf einer ganz biederen, konservativen Weise ebendiese lebensgeschichtlichen Vorprägungen mitnehmen und sagen, ich bin nun mal links, ich habe doch nicht vor Dingsbums gekämpft, um jetzt mit denen …

Ist man da nicht weiter?

Walter: Nein. Das mag unpolitisch sein und nicht raffiniert genug und nicht beweglich genug, aber eine Partei, die ungefähr vier bis fünf Prozent Stammwähler hat, für die ist es auch verdammt schwierig, denn die Abflüsse zur Sozialdemokratie oder auch zur Linkspartei könnten die Existenz kosten.

Cohn-Bendit: Das ist tatsächlich die Kehrseite der Medaille. Im Übrigen: Sie irren mit Ihrem Genscher-Vergleich. Das kann man nicht machen, indem man es wie Genscher einfach so hervorzaubert. Die Frage ist: Wie diskursiv ist die Auseinandersetzung in der Partei zu führen? In Frankfurt haben wir mit der CDU vier zusätzliche Gesamtschulen, das haben wir mit der SPD nicht geschafft. Und wir haben jetzt ein Büro zur juristischen Unterstützung illegaler Einwanderer. Das hatten wir vorher nicht. Darüber muss man diskutieren. Dann kann jeder Linke sagen, Mensch, ich überlege es mir noch mal.

Walter: Eine Politik nach verschiedenen Seiten mit anderen Funktionen erfordert auch immer eine Relativierung von Prinzipien und ideologische Abrüstung. Das ist so ungeheuer kompliziert, dass sie möglicherweise Ihre Milieus überschätzen.

Cohn-Bendit: Stimmt. Der Bürgerentscheid in Freiburg zum Verkauf der städtischen Wohnungen war ein Moment, wo ich diese Unbeweglichkeit gespürt habe. Grüne und CDU sind dafür, verlieren, was für die CDU letztlich kein Problem ist. Aber die Grünen kriegen durch ein traditionelles Linksbündnis schwer eins auf den Hut. Das war eine ganz schwierige Argumentation. Aber es gab in der Minderheit der PDS-Fraktion, die in Dresden für einen ähnlichen Verkauf argumentiert hat, eine sehr interessante Argumentation. Warum bringt man das nicht zusammen? Das ist ein überraschendes Bündnis. Wer sich öffnet, wird überrascht sein, welche Bewegung es in anderen Parteien auch gibt. Es geht nicht nur um die Unterschiede, es geht um die Frage: Wo sind Bewegungen im Denken? Das klären die Grünen nicht, und da verpassen sie eine gute Chance.

Könnte es sein, dass die große Koalition den anderen eh noch Jahre Zeit zum Opponieren und Sichfinden lässt?

Cohn-Bendit: Ob für 2009 oder danach, zwei Dinge sind wichtig: Die Grünen müssen sich vorbereiten. Und: Man darf Merkel nicht unterschätzen.

Walter: Es gibt diese Biografie, da wurden ungefähr 30 Leute befragt, und niemand konnte sich daran erinnern, wann oder wie er zum ersten Mal Angela Merkel begegnet ist. Ich habe einen Schulfreund, der sechs Jahre mit dem Außenminister Steinmeier in der gleichen Klasse war. Er sagt, er kann sich an ihn nicht erinnern. Und das ginge vielen so. Wir haben also einen Außenminister und eine Bundeskanzlerin, an die man sich nicht erinnert.

Was heißt das?

Walter: Vielleicht heißt es im Zeitalter nach den großen Schicksalen und üppigen Biografien: Wir dürfen, wenn wir auch neue Konstellationen wollen, gar nicht so viele Vorbelastungen haben, nicht so durch Milieus geprägt sein. Vielleicht kann man wendige Politik nur ohne großes Gepäck machen, sodass man vor zwei Jahren noch eine neuliberale Aufbruchsbewegung mit Herrn Westerwelle initiieren wollte und heute eben den Trippelschritt zum Programm macht.

Cohn-Bendit: Also, ich kann mich erinnern, wann ich Merkel zum ersten Mal getroffen habe. Sie war da gerade Ministerin geworden. Ich fand sie sehr offen. Sowohl Frau Merkel als auch Steinmeier sind vielleicht wirklich Typen, die ganz anders auf Leute zugehen können als etwa mein Lieblingsaußenminister. Die zuhören und sich ein bisschen zurücknehmen. Für die Moderation der ganzen gesellschaftlichen Reformen, die notwendig sind, aber nicht machbar, ist ein anderer Typus als Schröder/Fischer von einer Gesellschaft vielleicht eher zu akzeptieren.

Was ist mit einem rechtschaffenen Grünen-Wähler, der ahnen möchte, ob künftig mit Fritz Kuhn Grüne Marktwirtschaft ansteht oder ob er mit Claudia Roth nach Rot-Rot-Grün ziehen darf?

Cohn-Bendit: Wenn schon, wird er nicht mit Claudia Roth gen Rot-Rot-Grün ziehen, sondern mit Fritz Kuhn.

Walter: Schwarz-Grün klappt nur mit Matadoren wie Beckstein und Ströbele.

Cohn-Bendit: Es werden nicht die beiden sein, aber grundsätzlich stimmt es.

Walter: In so einer Koalition wird es zwei geben, die sich verstehen müssen, aber es wird dann eben auch zwei geben müssen, die die eigenen, skeptischen Milieus bedienen, indem sie protestieren.

Nehmen wir an, man fände es wahlentscheidend, dass eine Partei den Kampf gegen den Klimawandel ins Zentrum ihrer Politik stellt – und die Ökoankündigungspartei zieht dann nach Rot-Rot-Grün. Stimme verschenkt?

Cohn-Bendit: Nein. Die Grünen müssen beweisen, dass sie fähig sind, mit dem, was sie sagen, Klimaschutz, internationale Weltordnung und Europa, in welcher Konstellation auch immer, ihre Inhalte aufrechtzuerhalten und durchzusetzen. Das ist das Risiko, das du eingehst: Werden sie dazu in der Lage sein?

Ist echter Klimaschutz mit einer Kohle- und einer Linkspartei nicht illusorisch?

Cohn-Bendit: Ja und nein. Alle Parteien stehen unter riesigem Veränderungsdruck. Diejenigen werden am besten herauskommen, die am ehesten in der Lage sind, die Veränderung zu denken.

Herr Walter?

Walter: Na ja, Sie müssen diese Fragen ja offenbar so stellen, aber ansonsten war das eine ganz naive Klein-Fritzchen-Einlassung. Der Handlungsdruck verändert die Politik unheimlich schnell. Und das lieben Sie, Herr Cohn-Bendit.

Cohn-Bendit: Ja, das ist für mich eine wunderbare Zeit, weil alle sich verändern müssen. Und wenn sie es nicht tun, dann gehen sie ein, das ist ja auch nicht schlimm. Ich finde – und deswegen steht die taz manchmal daneben –, es ist viel mehr Veränderung überall, als wir es artikulieren. In der Gesellschaft sowieso, aber auch in den Parteien.

Meine Herren, die Grünen sind also eine Partei, von der Sie sagen, dass die Spitze Debatten nur noch simuliert. Es gibt eine Basis, die schwer zu mobilisieren ist, weil sie in Beruf und Privatleben beschäftigt ist. Matthias Berninger war gerade ein weiterer aus einer Reihe professioneller Jungpolitiker, die mangels Perspektive geflüchtet sind …

Cohn-Bendit: Na ja, der Berninger …

Klaus Müller, vormals Umweltminister in Schleswig-Holstein, ist weg. Boris Palmer, das größte Talent in Baden-Württemberg, hat sich als OB nach Tübingen abgesetzt, alles Mittdreißiger.

Cohn-Bendit: Boris Palmer, Tarik Al-Wazir, Fraktionsvorsitzender im Hessischen Landtag, oder Manuela Rottmann, Umweltdezernentin in Frankfurt, werden groß rauskommen als Mittvierziger. Where’s the problem?

Walter: Noch mal, diese berühmte Bürger- oder Zivilgesellschaft ist immer eine Gesellschaft der eigentlich Älteren. Die typische repräsentative Figur der Bürgergesellschaft ist die 55-jährige Frau, die macht das. Und da rutscht diese Generation immer mehr hinein. In 15 Jahren wird es grüne Forderungen geben, nach sicheren Elektrorollstuhlwegen und kreativen Altersheimen. Die Grünen werden beinharte Vertreter der Interessen der Älteren sein. Und sie werden auch dafür natürlich schöne und postmaterialistische Begriffe finden.

PETER UNFRIED, 43, ist stellvertretender Chefredakteur der taz