Die Welt kehrt sich um

■ Ausschweifende Blicke in eine elegante Gangsterwelt: Zhang Yimous Shanghai Serenade als Film des Monats im Metropolis

Shanghai in den 30er Jahren. Ein 14jähriger steht, gerade vom Land gekommen, am Hafen und staunt. So groß ist sein Staunen, daß die Leinwand kaum ausreicht, um sein Augenpaar zu fassen. Zugleich ein Signal. Was immer diese Augen sehen, wird befreit vom Gewöhnlichen. Das explosive, bedrohliche Gewimmel, auf das die Kamera dann seinen Blick freigibt, bleibt so zunächst unverbunden. Keine identifikatorische Vereinnahmung des Ortes, kaum der Beginn einer Erzählung, man ahnt eher ein Motiv: der unschuldige Blick. Von diesem Fluchtpunkt aus zieht Zhang Yimou seinen Film Shanghai Sere-nade auf. Das ist zwar nicht gerade neu, aber es ist so wohltuend weit entfernt von einer Lehrstunde beispielsweise Wendersschen Zuschnitts, daß man sich gerne darauf einläßt.

Eine Gangstergeschichte: Liu Shu holt seinen Neffen Shuisheng nach Shanghai. Es ist die Blütezeit der Triaden, eine Art chinesischer Mafia. Shuisheng soll der Sängerin Xiao Jinbao dienen, der Geliebten des Triadenbosses Tang. Das ist die Ausgangssituation für eine detailreiche und elegante Darstellung der ausschweifenden, gewalttätigen und in Shuishengs Augen unverständlichen Welt der Gangster. Das Vokabular ist auch aus Hollywood bekannt. Steingesichtige Männer mit Mantel und Hut bringen ihre Gegenspieler um, leichtbekleidete Showgirls singen anrüchige Lieder, überall Luxus, aber auch unverbrüchliche Regeln, strenge Hierarchie und ständiges Mißtrauen. Denkbar ungeschickt bewegt sich Shuisheng in diesem Kosmos, so daß er sich den Unwillen der arroganten Jinbao zuzieht.

Doch irgendwann hat es mit der Unschuld ein Ende, was zugleich den Wendepunkt des Films markiert. Ein gescheiterter Mordanschlag gegen Tang, bei dem sein Onkel stirbt, hat zur Folge, daß sich der engste Kreis auf einer abgelegenen Insel versteckt, um die Entwicklung abzuwarten. Blut! Rot ist das Kleid, das Shuisheng statt des geforderten grünen seiner Herrin vorlegt („Hast Du noch nie Blut gesehen“), tiefrot das Blut, das er aus dem Körper seines Onkels fließen sieht, und rot erscheint auch für einen Moment das Wasser, in das die Ruder des Fluchtbootes tauchen.

In dem viel langsameren, leider streckenweise mit etwas kitschigen Bildern bestückten zweiten Teil legt Yimou Stück für Stück die Tragik von Jinbaos verfehltem Leben frei. Allein dem Kind Shuisheng entdeckt sich eine sensible Frau, die erkennt, daß die Verheißungen des funkelnden Gangsterlebens ein Trugbild sind. Indes, eine Umkehr gibt es nicht. Mit grausamer Konsequenz räumt die Gewalt der Macht alle Hindernisse aus dem Weg.

Am Ende steht wieder Shuishengs Blick. Aber die Welt hat sich umgekehrt. Und wankt.

Sven Sonne