Nicht weniger als 43 Parteien kämpfen am Sonntag um die 450 Sitze im russischen Parlament. Das Wahlvolk ist so gespalten wie die Parteienlandschaft. Jeder dritte Wähler ist noch unentschieden. Vermutlich werden die Kommunisten die stärkste

Nicht weniger als 43 Parteien kämpfen am Sonntag um die 450 Sitze im russischen Parlament. Das Wahlvolk ist so gespalten wie die Parteienlandschaft. Jeder dritte Wähler ist noch unentschieden. Vermutlich werden die Kommunisten die stärkste Partei. Doch auch sie können nur mit 15 bis 20 Prozent der Stimmen rechnen

Eine Wahl ohne Sieger?

Vor schneeverhangenem Himmel und der Kulisse 18stöckiger Hochhäuser geben sich die Bewohner der Moskauer Schlafvorstadt eingemummelt dem vorfestlichen Einkauf hin. Vor mehreren neueröffneten Supermärkten im westlichen Stil glitzern Weihnachtsbäume. Einschlägige Melodien klimpern, wenn sich die automatischen Türen der Kaufhäuser öffnen.

Noch 1990 hat hier niemand von solchen Einkaufsmöglichkeiten zu träumen gewagt. Damals standen die Geschäfte leer, und das täglich Notwendige zu besorgen bedeutete stundenlanges Schlangestehen, das manchmal in bittere Kämpfe ausartete. Jetzt muß niemand mehr ins Stadtzentrum fahren, um einige letzte Fressalien für das Buffet der Wahlfete am Sonntag zu besorgen. Doch die Diskrepanz zwischen den Verlockungen und der Dicke der eigenen Geldbörse der Einkäuferscharen ist riesig. Auf welche politische Seite werden sich die mühsam warmgehaltenen Herzen am Sonntag schlagen?

Die Anzahl der Wankelmütigen, die sich erst in letzter Minute für eine bestimmte Partei entscheidet, liegt bei 30 Prozent. Die Angst um das „Verpuffen“ der eigenen Stimme bewegt die Wähler in westlichen Ländern oft dazu, ihre Stimme nicht der kleinen, sondern der großen Partei als geringerem Übel zu geben. Nicht so jene etwa 25 Prozent RussInnen, die sich schon vor Wochen festgelegt haben. Stur und prinzipienfest wollen sie eine Minipartei wählen.

Angesichts der 42 zur Wahl stehenden Parteien und Grüppchen, witzelt deshalb die Presse, müssen sich die Meinungsforscher mit der Mathematik der unendlich kleinen Zahlen vertraut machen.

Ein Geschäft mittleren Standards hat Fruchtjoghurt im Fenster – das Viererpack zu 5.000 Rubel. Wer soll das kaufen und vor allem bezahlen? Familie Kusnezow gewiß nicht. Sie teilen sich in ihrem Dreipersonenhaushalt 900.000 Rubel monatlich und liegen damit – wie die meisten Moskauer Familien – knapp über der Armutsgrenze. Der Preis des „Verbraucherkorbs“, der minimalen Grundausstattung, wird zur Zeit mit 224.000 Rubel pro Person angesetzt.

Vera Kusnezowa, 48, arbeitet als Sportlehrerin, unterrichtet 40 Stunden die Woche und kommt damit auf 600.000 Rubel. 200.000 trägt ihr Mann als pensionierter Dozent bei. Ein Stipendium von 60.000 Rubel erhält die 19jährige Tochter Julija. Die sind fast wieder weg, wenn sie ihre Metro-Monatskarte für 37.000 Rubel kauft. 100.000 zahlen die Kusnezows monatlich für ihre schöne Dreizimmerwohnung, 50.000 für Licht und Telefon. Manchmal müssen sie bei Freunden Schulden machen. Früher halfen der Familie die Lebensmittel von ihrer Datsche, 30 Kilometer westlich von Moskau. Aber den Gartenbau haben ihnen die horrenden Fahrpreise vergällt. An Kartoffeln, Kohl und Gurken können sie nur 20 Kilo in die Stadt buckeln. Ein Kilo Kartoffeln kostet dieser Tage 2.000 Rubel. Luxusgemüse wie Tomaten etwa 12.000.

Wen wird diese Familie wählen? Herr Kusnezow hat sich noch nicht entschieden, ist aber auf jeden Fall gegen die Kommunisten und Schirinowskis „Liberaldemokratische Partei“. Vielleicht macht bei ihm der aus der Mode gekommene Block „Demokratische Wahl Rußlands“ das Rennen. Vera Kusnezowa hofft auf die „Frauen Rußlands“, die vor allem die 14 Millionen hoffnungslos unterbezahlten Angestellten des öffentlichen Sektors anspricht. Julia stimmt für die konsequent liberale Jabloko-Gruppe Grigori Jawlinskis, Favorit unter den Studenten. Gleich danach kommen allerdings Ex-General Lebeds revanchistischer „Kongreß der russischen Gemeinden“ und Premierminister Tschernomyrdins „Unser Haus Rußland“. Die gebildete Jugend schwankt zwischen Progressiven und Ewiggestrigen.

Politische Symphatien lassen sich heute nicht mehr eindeutig bestimmten sozialen Gruppen zuordnen. Am klarsten ist noch die Entscheidung der beiden Rentnerinnen, die vor dem Geschäft Petersilie verkaufen. Die Renten sind vor den Wahlen noch schnell erhöht worden, dennoch kommen sie im Schnitt nicht über 215.000 Rubel. Nach wie vor rekrutiert sich aus den Reihen der Armen und Alten das Kontingent der Kommunistischen Partei.

Vor einem mageren Schaschlik zu 27.000 Rubel das Kilo steht ein properer Mann, der einen guten Durchschnittsbürger abgibt. Doch wie sich herausstellt, ist Juri Pawlowitsch – so heißt er – so durchschnittlich nicht. Er sitzt im Vorstand einer Bank und lädt jetzt seine Einkäufe in einen schicken Saab. Ihm geht es glänzend, sein Vater aber müßte mit seiner Professorenrente hungern, wenn Juri Pawlowitsch nicht wäre. Juri Pawlowitsch blickt resigniert um sich: „Unsere Betonkästen haben Risse, und wir sehen sie nicht mehr.“ Er wird Ex-Finanzminister Boris Fjodorows Block „Vorwärts Rußland“ wählen: „Weil Fjodorow ein hervorragender Wirtschaftswissenschaftler ist und sich dazu im Westen eine breite Allgemeinbildung erworben hat.“ Daß diese Partei kaum eine Chance hat, die Fünfprozenthürde zu überwinden, ist Juri Pawlowitsch piepegal.

Gleich um die Ecke liegt Moskaus Super-Luxus-Einkaufsmarkt „Unikor“, ein deutsch-russisches Joint-venture. Ein künstliches Weihnachtsbäumchen ist hier für 970.000 Rubel zu haben. Ein Glas Sauerkirschen zum Verzieren der Häppchen für die Wahlparty Marke „Landkost“ kostet 17.000 Rubel. Nebenan beladen zwei Männer einen Einkaufswagen mit einem lebenden Hummer. Den Physiognomien zufolge sind es Mitglieder der „Panzerknackerbande“, Moskauer Mafiosi. Ihnen hinterher schwänzelt eine blonde Braut. „Sagen wir mal Hausfrau“, kichert die Braut auf die Frage nach ihrem Beruf. „Nennen wir's mal Kraftsporttrainer“, grinsen die Panzerknacker. Und wen wollen sie wählen? Da wird der Blick des Älteren unter seiner Mütze ganz entschieden: „Besser, als es uns heute geht, kann es in Rußland nicht gehen. Neue Machthaber würden die Situation gefährlich destabilisieren. Das könnte uns etwas stören. Deshalb sind wir für Ministerpräsident Tschernomyrdins ,Unser Haus Rußland‘. Möge uns auch Präsident Jelzin noch lange erhalten bleiben. Nichts geht über Kontinuität und Stabilität!“ Barbara Kerneck, Moskau