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Lücke im Sexualstrafrecht

■ Mißbrauch einer Minderjährigen: Freispruch für den Freund der Mutter / Das 15jährige Mädchen sei keine „Schutzbefohlene“ gewesen Von Patricia Faller

Wegen „sexuellen Mißbrauchs einer Schutzbefohlenen“ war Armin S. im März 1995 zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und einem Schmerzensgeld von 10.000 Mark verurteilt worden. Jetzt wurde er in einem Revisionsverfahren vor dem Lübecker Landgericht freigesprochen. „Das ist ein Skandal“, kommentierte die Anwältin Gunda Dircks-Elsner, die das Opfer als Nebenklägerin vertrat. Der 35jährige war nicht verurteilt worden, obwohl allen Prozeßbeteiligten klar war, daß es zu sexuellen Übergriffen an der damals 15jährigen Tanja B. gekommen war. Sie ist die Tochter seiner Freundin Brigitte.

Der Richter machte in diesem Fall eine Gesetzeslücke aus, die 15- bis 16jährige Mädchen im Rahmen der sexuellen Selbstbestimmung unter keinen besonderen Schutz stelle. Denn die Altersgrenze bei sexuellem Mißbrauch von Kindern liege bei 14 Jahren. Auch wegen Vergewaltigung oder sexueller Nötigung hätte er den Mann nicht verurteilen können, weil ihm nicht nachgewiesen werden konnte, daß er Gewalt angewendet hätte, um Tanja B. zum Geschlechtsverkehr zu zwingen. Nach Ansicht der Anwältin des Opfers reiche aber das allgemeine Gewaltklima, das in dem Haushalt zum Alltag gehörte, aus, um von der „gegenwärtigen Bedrohung von Leib und Seele“ auszugehen, die für eine Verurteilung wegen Vergewaltigung oder sexueller Nötigung Voraussetzung ist. Sie will erneut Revision einlegen.

Bekannt wurden die sexuellen Übergriffe während eines vormundschaftlichen Gerichtsverfahrens. Nach einem Suizidversuch im April 1994 wollte das Jugendamt den Eltern das Vormundschaftsrecht absprechen. In dem Verfahren erzählte Tanja zum ersten Mal von den Vorfällen.

Im März 1995 kam es vor dem Lübecker Landgericht zur ersten Verurteilung. Dagegen legte die Anwältin des Beschuldigten, dem vorgeworfen worden war, das Mädchen von Februar bis April 1994 etwa 16mal sexuell mißbraucht zu haben, Revision ein. Der Bundesgerichtshof beschloß, daß das Landgericht nicht deutlich genug herausgearbeitet habe, daß das Mädchen wirklich eine „Schutzbefohlene“ des Freundes der Mutter gewesen sei. In diesem Fall liegt die Altersgrenze bei 16 Jahren.

„Ein Fahrlehrer, der sich an einer Schülerin vergeht, vergeht sich an einer Schutzbefohlenen“, erklärt die Anwältin des Opfers, Gunda Dircks-Elsner. Nach Auffassung des Gerichts tut das aber nicht der Freund der Mutter, der mit im Haus lebt, die Kinder zur Schule fährt, oder ihnen vorschreibt, wie lange sie fernsehen dürfen.

In dem erneuten Prozeß kam wenig Erhellendes raus: Das Opfer schwieg, die Mutter verweigerte die Aussage, weil sie mittlerweile verlobt ist mit Armin S.. „Der Zeitabstand zwischen den Taten und dem zweiten Verfahren hat das Ganze enorm erschwert“, erklärte der Vorsitzende Richter. Es sei nicht festzustellen gewesen, ob es sich um ein Obhutsverhältnis handelte. Bei dem Verfahren sei ihm aber klar geworden, so der Richter, daß der Gesetzgeber bei der Entrümpelung des Sexualstrafrechts eine folgenschwere Lücke gelassen habe: Früher seien sexuelle Handlungen an unter 16jährigen Mädchen per se verboten gewesen.

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