Der stille Kassierer hat abkassiert

Die zwei Leben des Gerhard B.: Wie der Münchner CSU-Fraktionschef eine Vereinskasse plünderte und seinen politischen Gegnern Unmoral vorwarf. Gestern wurde er zu 3 Jahren und 9 Monaten verurteilt  ■ Aus München Felix Berth

Mag sein, daß der Mann kein Mitleid verdient. Schließlich war Moral jahrelang das wichtigste Instrument seiner Politik. Ständig witterte Gerhard Bletschacher (CSU) Spezlwirtschaft, Kungelei und unlautere Geschäfte. Das Gebiet seiner Nachforschungen grenzte er dabei präzise ein: Die Amigos suchte er ausschließlich in den Reihen von SPD und Grünen. Beim geringsten Anlaß drohte er wegen „grün-roter Vetternwirtschaft“ im Münchner Rathaus mit der moralischen Geißel. Wenn eine seiner Schmutzkampagnen mangels Substanz verebbte, war er schon auf der Suche nach dem nächsten „Skandal“, mit dem er den politischen Gegner ein paar Tage lang diffamieren konnte.

Nun also stand dieser Gerhard Bletschacher selbst vor Gericht. Er hat gestanden, daß er fast fünf Millionen Mark aus der Spendenkasse des Vereins „Stille Hilfe Südtirol“ geräumt hat. Neun Jahre lang nutzte er seinen Vereinsvorsitz, um die „Stille Hilfe“ zu plündern. Neun Jahre lang marschierte er fast jeden Monat zur Bank und ließ sich zwischen 18.000 und 70.000 Mark von den Vereinskonten auszahlen. Neun Jahre lang schützte er damit seine marode Käseschachtelfabrik vor dem Konkurs.

Trotzdem will sich die angemessene Häme beim Beobachter nicht einstellen. Ob man will oder nicht – man hat Mitleid, wenn man Gerhard Bletschacher im Saal 175 des Münchner Landgerichts sieht: Das Gesicht eingefallen, die Bewegungen fahrig, der Blick starr. Manchmal wirkt er, als würde er gleich losheulen, und eine Sekunde später sieht man erleichtert, wie er sich die Augen reibt und nur noch erschöpft dreinsieht. Die Tränen, denkt man dann, soll er doch bitte zu Hause erledigen.

Sicher ist manches an dieser Büßerhaltung inszeniert und von seinem Verteidiger empfohlen. Auch daß er nach seinem Sturz im Alter von 64 Jahren den Taxischein gemacht hat, soll Demut dokumentieren: „Ich ernähre mich als Taxifahrer, um ein bescheidenes Leben zu führen und die Miete zu zahlen“, fügte Bletschacher ganz beiläufig in sein Schuldbekenntnis ein.

Es ist nicht Bletschachers Abstieg, der Mitleid erzeugt. Es ist vielmehr die plötzliche Kraftlosigkeit dieses Mannes. Denn der gleiche Gerhard Bletschacher war bis vor einem halben Jahr ein geschäftiger CSU-Kommunalpolitiker: ständig wirbelnd, gierig auf jede Erwähnung in den Zeitungen, permanent in der Partei präsent. In guten Momenten ergab das den Eindruck vom „Politiker, der etwas tut“, in schlechten erinnerte er an einen Kreisel, der zu stark aufgezogen wurde.

Doch zehn Jahre Doppelmoral sind auch zehn Jahre Doppelleben. Die ungeheure Kraft, die Bletschacher dafür benötigte, scheint ihm ausgegangen zu sein – was allerdings nicht verwundert angesichts seiner verschiedenen Leben.

Zum Beispiel im Sommer 1991. Damals startete er eine Diffamierungskampagne gegen die Münchner Selbsthilfegruppen. Sie seien „Sympathisanten der grün-roten Parteien“, behauptete er und sprach von „Mißbrauch der Steuergelder“. Bletschacher schickte seine 25 CSU-Stadträte zu Kontrollen in die Selbsthilfeszene und wetterte danach gegen den „Selbstbedienungsladen“. Sein Fazit erklärte er am 30. Oktober 1991 der Abendzeitung: „Heute kommt doch jeder, der sich nicht ganz dumm anstellt, ans Geld.“

Am Tag zuvor hatte Bletschacher – so konnte man jetzt in der Anklageschrift der Staatsanwälte nachlesen – wieder einmal die Postbank München besucht. Hier hatte die „Stille Hilfe Südtirol“ ein Konto. Er reichte einen Scheck über 40.000 Mark ein, ließ sich das Geld bar aushändigen und zahlte es auf ein Konto seiner Käseschachtelfabrik. Offensichtlich wußte auch er, wie man „ans Geld kommt“. Bis Sommer 91 hatte er ziemlich genau drei Millionen Mark aus der Vereinskasse entnommen.

Den einen Tag Politiker mit hehren Grundsätzen, den nächsten Tag ein Krimineller – dieser Spagat war nicht einfach durchzuhalten. Vor allem, als sich das Finanzamt einschaltete. Denn im gleichen Sommer bekam Bletschacher wegen seiner dauernden Abbuchungen zu Lasten des Vereins den ersten Ärger mit dem Fiskus.

Am 12. Juni 1991, so sagte ein Finanzbeamter jetzt vor Gericht, hatte man ihm erklärt, daß seine Entnahmen nur zulässig seien, wenn er das Geld als Darlehen verzinse, zurückzahle und entsprechende Sicherheiten habe. Bletschacher habe, so der Finanzbeamte, diese Warnung „bestürzt“ aufgenommen.

Am nächsten Tag, dem 13. Juni, pöbelte er im Stadtrat wieder gegen Selbsthilfegruppen. Diesmal forderte er allen Ernstes, der für Selbsthilfeprojekte zuständige Sozialreferent müsse „eine Dienstaufsichtsbeschwerde gegen sich selbst wegen der Verschwendung von Steuergeldern“ einleiten. Am 19. Juni buchte er dann die nächsten 25.000 Mark vom Konto der „Stillen Hilfe“ ab.

Von 1990 bis 1995 – er trat aufgrund der Affäre zurück – war Bletschacher CSU-Fraktionschef. Nur deshalb konnte er sein politkriminelles Doppelleben so lange durchhalten, hat der Prozeß gezeigt. Man habe ihn „nicht so genau unter die Lupe genommen“, sagte ein Beamter des Finanzamts.

Obwohl dort bereits 1990 die ersten Unklarheiten von Bletschachers Vereinsführung bekannt waren, dauerte es über vier Jahre, bis die Staatsanwälte eingeschaltet wurden. Wäre man früher gegen Bletschacher vorgegangen, „wäre der Teufel losgewesen“, sagte ein Staatsdiener bei seiner Vernehmung entschuldigend.

Hinzu kam die milde Haltung der zeitweise zuständigen Finanzbeamtin Helga Dettmer. Als sie den Fall im März 93 bearbeitete, sei er „in der allgemeinen Verwaltung versunken“, sagte sie. Sie konnte sich bei ihrer Aussage am Montag an fast nichts erinnern, aber sie hat neuerdings auch Wichtigeres zu tun. Denn seit kurzem ist Helga Dettmer Stadträtin in München – natürlich in der Fraktion, die Gerhard Bletschacher vor kurzem verlassen mußte.

Diese politischen Aspekte blieben im Prozeß jedoch weitestgehend ausgeklammert. So wagte kein Richter die Frage zu stellen, wie stark sich andere CSU-Funktionäre in die Arbeit des Finanzamtes einmischten. Auch Bletschachers Verteidiger deutete nur gelegentlich an, daß sein Mandant wegen der sanften Finanzbeamten leichtes Spiel hatte. Er plädierte schließlich für eine Strafe „unter drei Jahren“. Die Staatsanwältin forderte eine Haftstrafe von vier Jahren und neun Monaten.

Der Richter blieb dazwischen; er verurteilte Gerhard Bletschacher gestern nachmittag zu 3 Jahren und 9 Monaten Knast wegen Untreue in 83 Fällen.