Die Krise der SPD begann am 8. Dezember 1990

■ Die heutige Situation der Partei erinnert frappant an die von vor fünf Jahren

Und die Geschichte wiederholt sich doch. Vor fast genau fünf Jahren, nämlich am 8. 12. 1990, entschied ein Sonderparteitag der SPD, was auch der heutige Parteitag höchstwahrscheinlich beschließen wird: mit der CDU Koalitionsgespräche zu führen. Eine Woche zuvor, am 2. 12. 1990, hatte die SPD bei den Wahlen zum Abgeordnetenhaus ein ähnlich schlechtes Ergebnis eingefahren wie bei den Wahlen vor acht Wochen.

Die Sozialdemokraten holten nach dem Scheitern von Rot-Grün vor fünf Jahren ihr damals „schlechtestes Ergebnis in der Nachkriegsgeschichte“. Mit dem amtierenden Regierenden Bürgermeister Walter Momper an der Spitze rutschten sie von 37,3 auf 31,2 Prozent. Wie am 22. 10. dieses Jahres konnten sie in Westberlin nur ein Direktmandat gewinnen. Doch eine Debatte über die unangenehme Krise blieb aus. Statt dessen stürzte sich die SPD-Spitze wie benommen in Koalitionsverhandlungen, die von der lästigen Frage ablenkten: „SPD, wohin?“

Bereits auf dem Parteitag vor fünf Jahren gab es eine Reihe von Anträgen gegen eine Große Koalition und für die Tolerierung eines CDU-Minderheitssenats. Zu den Anhängern der SPD-Oppositionsrolle zählte der inzwischen verstorbene Harry Ristock. Das Altväterchen der Linken warnte davor: „Der Filz einer Großen Koalition wird sich wie Mehltau über die Stadt legen.“ Er sollte mit diesen Worten in den folgenden fünf Jahren noch häufig zitiert werden. Zu den Gegnern der Großen Koalition gehörte bereits Ende 1990 der damalige Innensenator Erich Pätzold, der mit der Räumung der Mainzer Straße den Bruch der rot- grünen Koalition ausgelöst hatte.

Nicht nur die ausbleibende Debatte über die eigene Krise erinnert an die SPD von heute, selbst die Termine der Koalitionsbildung sind fast auf den Tag mit dem heutigen Kalender deckungsgleich. Das Abgeordnetenhaus wählte 1991 den Senat am 24. Januar – 1996 soll er am 25. Januar ernannt werden. Verblüffend ist auch die Ähnlichkeit der Formulierungen im auf dem heutigen Parteitag vorliegenden Leitantrag mit denen im Koalitionsvertrag von 1990. Dort setzte sich die SPD etwa dafür ein, „alle Möglichkeiten der Einnahmepolitik“ zu aktivieren, „soweit dies sozial verträglich ist“. Auch sollten alle öffentlichen Aufgaben darauf überprüft werden, „ob sie in der neuen Situation notwendig sind“. Im heutigen Leitantrag heißt es: „Einnahmeverbesserungen müssen sozial differenziert werden.“ Und: „Die Haushaltskonsolidierung ist Kernbestand sozialdemokratischer Politik.“

Im nachhinein ist es immer einfach, Entwicklungen zu erkennen, die beim Zeitpunkt ihres Eintretens nicht absehbar waren. Und sicher konnte nach der damaligen Regierungsbildung niemand ausschließen, daß sich sozialdemokratische Erfolge noch einstellen werden. Aber auch wenn alles hätte anders kommen können – es kam nicht anders.

Die ausgehandelten Ziele im Koalitionsvertrag wie etwa das der Sparsamkeit wurden bereits bei der Regierungsbildung nicht einmal mehr von der SPD eingehalten. Die erste mit der CDU vereinbarte Amtshandlung war nämlich, den Senat von 13 auf 15 Mitglieder zu vergrößern. Später erhöhten beide Koalitionspartner die Zahl der Staatssekretäre um sechs.

Trotz des erheblich aufgestockten Regierungspersonals fielen die ersten 100 Tage für beide Koalitionspartner mager aus. Die SPD verzichtete darauf, die noch mit der Alternativen Liste (AL) vorbereitete Auflösung der Freiwilligen Polizeireserve durchzusetzen. Dann mußte sie zuschauen, wie Verkehrssenator Herwig Haase (CDU) die Havelchaussee für den Autoverkehr freigab, Busspuren übermalt und Tempo-30-Schilder abgeschraubt wurden. Größter Erfolg der Sozialdemokraten: Im Ostteil werden die Sozialhilfesätze auf Westniveau angehoben.

SPD-Landesvorsitzender Momper machte dann Ende 1991 von sich reden, weil er Chef der schon damals angeschlagenen Olympia-GmbH werden wollte. Die Wunschkarriere kam nicht zustande. Mitte 1992 wird er Mitarbeiter bei der Immobilienfirma Ellinghaus, dafür aber von seiner Partei so hart gescholten, daß der Mann mit dem roten Schal am 17. August von seinem Posten als Landesvorsitzender zurücktreten muß. Fraktionschef Ditmar Staffelt wird Mompers Nachfolger und damit auch Spitzenkandidat für die noch drei Jahre entfernte Abgeordnetenhauswahl.

1994 begann für die SPD noch mit einer guten Nachricht. Justizsenatorin Jutta Limbach wurde Präsidentin des Bundesverfassungsgerichtes. Doch Mitte Juni löst Fraktionschef Staffelt die schwersten Krise der 12. Legislaturperiode aus. Nachdem ihm die rechtsradikalen Kontakte des damaligen Sprechers der Innenverwaltung, Hans-Christoph Bonfert, bekannt werden, fordert er den Kopf von Dieter Heckelmann (CDU). Der Innensenator mußte sich damals bereits vor zwei Untersuchungsausschüssen verantworten – wegen Rechtsradikalen und Kriminellen in der Polizeireserve sowie wegen seines Versagens bei der Verhinderung eines tödlichen Anschlags auf drei Teilnehmer der Sozialistischen Internationale in Neukölln.

Doch Staffelt scheitert mit seiner Forderung bereits innerhalb der eigenen Fraktion. Der Vorstandsvorsitzende von Daimler- Benz, Edzard Reuter (SPD), trägt zur Demontage von Staffelt ein übriges bei, als er sich als Bürgermeisterkandidat ins Gespräch bringt. Am 1. November tritt Staffelt von seinen drei Ämtern – Landes-, Fraktionsvorsitz sowie Spitzenkandidat – zurück. Klaus Böger wird Fraktionschef, Reinickendorfs Bezirksbürgermeister Detlev Dzembritzki Landeschef.

Tatsächlich gibt es ein gewisses Aufatmen. Böger bringt die inzwischen festgefahrene Verfassungsreform und die Vorbereitung der Fusion von Berlin und Brandenburg wieder in Gang. Mit ihrer Entscheidung, den neuen Spitzenkandidaten am 5. 2. 1995 von den 24.500 Mitgliedern zu küren, steuert die SPD auf einen ihrer wenigen politischen Höhepunkte zu. Bei der bundesweit beachteten Urwahl gewinnt Sozialsenatorin Ingrid Stahmer gegen Walter Momper. Doch der Wahlkampf mißlingt, Stahmer macht keine Koalitionsaussage und bleibt blaß. Hätte sie nicht eine verdorbene Bratwurst gegessen, sie wäre in der Öffentlichkeit als Diepgen-Herausforderin kaum wahrgenommen worden. Dirk Wildt