Warmes Bett oder kalte Dusche?

Die Entscheidung für oder gegen Koalitionsverhandlungen wird knapp ausfallen. Die halbherzig geführten Sondierungsgespräche erweisen sich als Bumerang für die Parteispitze  ■ Von Dorothee Winden

Es wird knapp werden. Bei der Entscheidung über die Aufnahme von Koalitionsverhandlungen mit der CDU oder den Gang in die Opposition zeichnet sich für den heutigen 104. SPD-Landesparteitag ein Kopf-an- Kopf-Rennen ab. Das ist die übereinstimmende Einschätzung von SPD-Kreisvorständen und führenden SPD-Landespolitikern.

„In den Westberliner Bezirken zeichnet sich eine klare Mehrheit für den Ausstieg aus der Großen Koalition ab“, schätzt der Wortführer der Koalitionsgegner und frühere Innensenator Erich Pätzold die Lage ein. Nur in Steglitz, Tempelhof und Neukölln überwögen die Koalitionsbefürworter. In den Ostberliner Bezirken ist die Lage dagegen vergleichsweise unübersichtlich. In Hohenschönhausen, Friedrichshain und Mitte haben die Kreisvollversammlungen Diepgen die rote Karte gezeigt. In Pankow, Weißensee und Köpenick sprachen sich die Sozialdemokraten für die Aufnahme von Koalitionsverhandlungen aus. Doch an die Ergebnisse der Kreisvollversammlungen sind die Parteitagsdelegierten nicht gebunden. Offenbar ist die Stimmung an der Basis stärker für einen Ausstieg als bei den Delegierten. „Es bleibt spannend“, meint auch SPD-Fraktionschef Klaus Böger, ein Befürworter von Koalitionsverhandlungen.

Angesichts des erwarteten knappen Ergebnisses „wird um jeden einzelnen Delegierten gerungen“, sagt Schatzmeister Klaus Uwe Benneter: „Die Senatoren hängen am Telefon und werben für den Einstieg in Koalitionsverhandlungen.“ Dennoch zeigte sich der für den Gang in die Opposition werbende Benneter „zuversichtlich“, daß die Gegner der Großen Koalition einen knappen Sieg davontragen.

Mit einem knappen Ergebnis rechnet auch Bettina Michalski, die stellvertretende Kreisvorsitzende von Kreuzberg. Sie befürchtet allerdings, daß es zugunsten der Koalitionsbefürworter ausfällt. Dort herrsche das Motto „Mal sehen, was wir in den Verhandlungen rausholen können“, kritisierte Michalski. Die Kreuzbergerin hält das für „Augenwischerei“. „Wenn man jetzt anfängt zu verhandeln, ist die Sache eingetütet.“ Dabei sei in den letzten fünf Jahren deutlich geworden, daß der „Pool der Gemeinsamkeiten“ mit der CDU nicht sehr groß sei. So hat sich der Kreuzberger Kreisverband mit einer überwältigenden Mehrheit gegen die Aufnahme von Koalitionsverhandlungen ausgesprochen. Vergeblich versuchte Peter Strieder, amtierender Kreuzberger Bürgermeister, seinen Ortsverband umzustimmen.

Auch im Kreisverband Wedding hat sich eine Zweidrittelmehrheit gegen die Koalitionsgespräche ausgesprochen. „Mit dieser deutlichen Mehrheit habe ich nicht gerechnet“, zeigte sich der Weddinger Kreisvorsitzende Hans Nisblé überrascht. „Das Ergebnis zeigt deutlich den Zorn an der Basis über die Sondierungsgespräche.“

Die Sondierungsgespräche mit der CDU erweisen sich als Bumerang für die Parteispitze. „Es war keine glückliche Entscheidung, Sondierungsgespräche zu führen“, stellt der Charlottenburger Kreisvorsitzende Rudolf Kujath fest. „Die SPD hätte lieber Positionen erarbeiten sollen, was für sie selbst und die Stadt das richtige ist.“ Kujath schätzt, daß sich die Hälfte der 21 Delegierten aus Charlottenburg schon festgelegt hat, die anderen würden ihre Entscheidung von der Stimmung auf dem Parteitag abhängig machen. Wie Bettina Michalski kritisiert auch Hans Nisblé, „daß die Gespräche mit den Grünen mehr als Pflichtübung abgehandelt wurden“. Nach Ansicht von Erich Pätzold waren die Sondierungsgespräche nicht nur „völlig überflüssig“, sondern hätten „verheerend gewirkt“. Es sei nur ein „Weiter so!“ zu erkennen gewesen. Noch dazu sei die dreiseitige Begründung des Leitantrags für die Aufnahme der Koalitionsgespräche „erbärmlich“. Außer „Allgemeinplätzen schlimmster Art“ habe der Landesvorstand nichts zu bieten.

Für Verärgerung an der Weddinger Basis sorgten auch Extratouren von Bausenator Nagel, der sich als Finanzsenator empfahl, und Walter Momper, der sich für betriebsbedingte Kündigungen im öffentlichen Dienst aussprach.

Deutliche Worte findet auch der vor kurzem zurückgetretene Kreisvorsitzende von Mitte, Dankward Brinksmaier: „Die Große Koalition ist der Selbstmord der SPD im Osten.“ Weiter gemeinsam mit der CDU zu regieren, das werde die SPD spalten, prophezeit Brinksmaier. Ihm seien allein in Mitte 15 Mitglieder bekannt, die im Falle einer Großen Koalition aus der Partei austreten wollten.

Bei vielen Ostdelegierten sind die Gefühle recht gemischt. Selbst die Befürworter einer Großen Koalition hegen Zweifel. Die Wahl zwischen Opposition und Großer Koalition erscheint vielen „wie die Wahl zwischen Pest und Cholera“, bringt Reinhard Kraetzer, Kreisvorsitzender von Prenzlauer Berg, den Zwiespalt auf den Punkt.

„In der Opposition werden wir zerrieben“, befürchtet der Friedrichshainer Kreisvorsitzende Frank Lewitz. „Eine Frontalopposition ist bei einer CDU-Minderheitsregierung nicht möglich. Wir werden selbst in der Opposition haftbar gemacht.“ Viele Koalitionsbefürworter sind mit der Rollenaufteilung einer „Großen Opposition“ nicht glücklich. Die Grünen könnten konsequent gegen die umstrittenen Großprojekte stimmen, die SPD müsse „die Last der Tolerierung tragen“ (Böger). Ein Argument, das Dankward Brinksmaier nicht gelten läßt: „Entweder wir können eine Entscheidung mittragen, oder wir haben gute Gründe, dagegen zu sein. Die müssen wir dann vermitteln.“ Auch Klaus Uwe Benneter ist überzeugt, daß die Partei nur in der Opposition wieder Profil gewinnen kann. Den Koalitionsbefürwortern wirft er vor, „ins warme Bett“ zu wollen. „Was wir brauchen, ist eine kalte Dusche.“

Heraus zum 104. Landesparteitag der SPD: Das nahmen über 300 Mitglieder wörtlich und traten aus. Anfang 95 hatte die Berliner SPD noch 23.930 Mitglieder, Ende September waren es noch 23.608. Seit der Wahl Lafontaines zum SPD- Chef ist Hoffnung: Austritte und Eintritte halten sich die Waage. taz