Zwischen den Rillen
: Kurven des Lebens

■ Jazz, der alle Lektionen gelernt hat: Steve Coleman kommt uns trilogisch

Wenn Jazz (dem letzten Spiegel-Special zufolge) wie ein Apfelbaum ist, dann muß Steve Coleman wohl ein ganz besonderer Züchter sein. Anders als Kevin Eubanks oder Geri Allen, seine alten Kumpels vom M-Base-Kollektiv, macht er kein Geld mit Werbejingles und Mainstream-Jazz. Altsaxophonist Coleman hat es geschafft, nach all den Jahren nichts anderes als Coleman-Musik zu spielen.

Wie sich die Musik von einem solchen Apfelbauern anhört, ist jetzt durch eine komplette Trilogie zu erfahren. Experimente en masse, aber an Colemans Grundsubstanz hat sich nichts geändert. Dabei lebt der Mann schon längst nicht mehr in Brooklyn, wo einst die Legende begann: aus blauem Dunst gegriffene Diskurse über „kreative Musik“, Independent- Strukturen, Selbstverwirklichung, Community. Von den zehn Jahren blieben: eine kleine Kiste Platten und diverse Karrierekicks in Richtung Plattenmajor- und Tonight-Show-Deals.

Heute lebt Coleman in einem kleinen Kaff zwischen Philadelphia und New York, in einer Gegend, in der sich auch Greg Osby niedergelassen hat. Die letzten reinen M-Baser sozusagen. Sie leben auf dem Land, gehen angeln und surfen im Internet. Gemeinsam betreiben sie noch das kleine RebelX-Label – getrennt versuchen sie sich in HipHop. Und das auch dann noch, nachdem klar geworden ist, daß eigentlich kaum wer Jazzer hören mag, die in HipHop machen (und umgekehrt).

Bei Coleman stoppt nach wie vor das Saxophon, wenn die Rapper beginnen. Aber dafür geht es bei ihm very underground zu. Überhaupt ist Coleman so ganz nebenbei ein Spezialist für Imagefragen. Als er in einem der letzten Frühsommer seine polierte Glatze präsentierte, war Fotoverbot die Parole. Wo Insider lediglich eine alte Dampfwalze hörten, die dem letzten Trend nicht recht zu folgen vermochte, sprach Coleman von den New Yorker Docks, von Orten, für die es keinen Stadtplan gibt.

Auch in Philadelphia und Chicago war er unterwegs – auf der Suche nach den Rappern, die in sein Konzept passen. „A tale of 3 Cities“ hieß seine erste HipHop- CD, die Anfang letzten Jahres zeitgleich mit „Def Trance Beat“ auch hier veröffentlicht wurde. Wie es Coleman gelang, ausgerechnet die Bertelsmann-Gruppe davon zu überzeugen, daß den beiden CDs bis zum Ende des Jahres noch drei weitere folgen müßten, bleibt sein Geheimnis. Jedenfalls hat er die Lektion der Alten, Busineß genannt, gelernt.

Was Colemans Musik eint, ist der unverwechselbare Groove: fett, versetzt und funky. Und seine Band 5 Elements, mit der er vor 16 Jahren als Free-Funk-Kellerband begann. Def Beats, sagt Coleman, das seien Beats, die ihn in Trance versetzen, die die Zeit vergessen machen und die im Unterschied zum New-Age-Trash zwar meditativ, aber auf geile Weise unkitschig sind.

Colemans Musik ist work in progress, und dafür braucht es Bedingungen. Wie etwa das Coleman-Festival in New York im Sommer '94 oder jenes in Paris im März '95, bei dem an sechs Tagen eben jene drei Live-CDs mitgeschnitten wurden, die jetzt sowohl einzeln als auch als Box zu kaufen sind, jede mit eigenem (Unter-)Titel. „The Way of the Cipher“ heißt die HipHop-Edition: nicht enden wollender Hardcore- Rap über 5-Elements-Grooves. „Myths, Modes and Means“ nennt Coleman die CD seiner Mystic Rhythm Society. Zu hören sind Koto, indische Percussion und Word-Jazz – vor, zu, zwischen und über 5-Elements- Grooves. Zu sehen war zudem auch eine Tänzerin, verrät das Booklet. Mit „Curves of Life“, der CD mit ausschließlich Colemans 5 Elements – Pianist Andy Mine, Bassist Reggie Washington und Schlagzeuger Gene Lake – ist die Trilogie einstweilen komplett.

Diese erste Live-CD seiner Band ist zugleich das Prunkstück dieses Dreiers, und das nicht nur, weil hierbei der Saxophonist David Murray einstieg. Wirklich einsteigen – wie Murray – kann ja nur einer, der zufällig da ist. So entstand früher mal große Musik unter (meist) beschissenen Bedingungen. Als die Modern-Jazz- Heroes noch monatelange Engagements in ein und demselben Club hatten.

Coleman versucht heute, diese Erfahrung zu rekonstruieren. Bedingungen für kreative Arbeit unter vermeintlich besseren Umständen – davon ist die vorliegende Trilogie eine Momentaufnahme. Wer beispielsweise die Zeit vergißt, neigt zu längeren Stücken – beim Live-Coleman keine Seltenheit. Wer sich für andere Kulturen und Philosophien interessiert, kommt auf komische Titel – bei Coleman die Regel. Wer hip tut, darf keine Standards spielen – Coleman ist die Ausnahme.

Seine 5-Elements-Version von „Round Midnight“ tut, wie soll man sagen... gut. Am Ende stimmen in so einem Glücksfall sogar die Klischees: Wenn Jazz wirklich wie ein Apfelbaum ist, hat er auf seine alten Tage noch einmal ganz schön ausgeschlagen. Christian Broecking

Steve Coleman's Music:

„Live at the Hot Brass“

BMG 74 321 316 912

(3-CD-Box-Set)