Siebzehn Kreuze, siebzehn Namen

Im vergangenen Jahr ermordete die Polizei in einem Hinterhalt 17 Bauern – Höhepunkt des schmutzigen Krieges im mexikanischen Bundesstaat Guerrero. Wer dort aufbegehrt, lebt gefährlich  ■ Aus Guerrero Anne Huffschmid

Kleine, verwitterte Holzkreuze sind über der nebligen Anhöhe verstreut. Dahinter erheben sich kahle Hügel, hier und da ein paar längst vertrocknete Blumen zwischen den dürren Sträuchern. Sonst kein Schmuck, keine Namen. Der wilde Friedhof ist nur eine kleine unscheinbare Station auf dem Weg in ein Bergdorf mit dem wohl unaussprechlichsten aller mexikanischen Ortsnamen: Tlacoachistlahuaca, inmitten der Sierra Madre an der Pazifikküste.

Vorbei an einsamen Reitern auf zerzausten Pferden, an barfüßigen Wanderern mit Machete am Gurt, gelegentlich auch an Armeelastern. Unser Reiseziel, das 500-Seelen-Dorf Rancho Viejo, war früher eine der unzügänglichen Zufluchten, in die die UreinwohnerInnen einst vor den spanischen Invasoren geflohen waren. „Die Weißen sind nie bis hier hochgekommen“, erzählt ein Bewohner mit zahnlosem Lächeln.

Alles ist lehmfarben hier, der Boden, die Ziegelhäuser, selbst die Gesichter sind staubverschmiert. Unwirklich blau leuchtet nur das centro de salud rural, das ländliche Gesundheitszentrum. Adrett beschriftet und eingezäumt, hat es nur einen Fehler: Krankenschwestern oder gar Ärzte verirren sich nicht hierher, auch Medikamente gibt es nicht. Kranke können so nur auf den traditionellen „tundo“ hoffen: eine Art Ziegelbackofen, dessen Boden mit Kräutern ausgelegt ist und in den die Fiebernden hineingeschoben werden, auf daß die Gluthitze die Bazillen bezwingen möge.

Auch die Lehrer kommen, wenn überhaupt, nur ein bis zweimal die Woche vorbei. Durchdringender Uringestank liegt in der Luft, Seife ist offensichtlich ebenso unbezahlbar wie Sandalen. Zum Verkaufen hat die kleine Dorfgemeinde sowieso nichts, jetzt reicht es nicht einmal mehr zum Überleben. Denn letztes Jahr haben die Bauern auf ihren Mini-Maisfeldern gar nichts ausgesät – statt dessen hielten sie sieben Monate lang den Platz vor dem Gemeinderathaus in Tlacoachistlahuaca besetzt: der korrupte Bürgermeister sollte abgesetzt und aus 26 umliegenden Dörfern eine neue indianische Kommune gegründet werden. Zum Jahresende mußte der Platz wieder geräumt werden, ergebnislos. Statt dessen hat die Aktion den mixtecos neun weitere Tote eingebracht. Trotzdem wollen sie weitermachen. „Wenn es auf legalem Wege nichts wird“, warnt Lauro, „dann müssen wir andere Maßnahmen ergreifen.“

Guerrero ist nicht Chiapas. In der mexikanischen Armenstatistik liegt der Bundesstaat Guerrero sogar noch vor jener berühmtgewordenen Nachbarprovinz im Südosten. Von Guerrero kennen Touristen höchstens seine legendäre Badebucht bei Acapulco, das unwegsame Hinterland war Auswärtigen bis vor kurzem nahezu unbekannt. Menschenrechtlern aber ist die tierra sin ley, die gesetzlose Erde, wie der Schriftsteller und Guerrero-Experte Carlos Montemayor die 3-Millionen-Provinz nennt, seit langem ein Begriff: als Hochburg des politischen Mordens, als Paradebeispiel für Kazikenwillkür und Narco-Terror. Mehr als fünfhundert der insgesamt acht- bis neunhundert mexikanischen „Verschwundenen“ sind Schätzungen zufolge aus Guerrero. Und seit dem Amtsantritt des Gouverneurs Rubén Figueroa vor zweieinhalb Jahren herrscht hier ein „schmutziger Krieg“ gegen Aufsässige und Andersdenkende. Diesen geht es heute weniger um die Umverteilung des ohnehin eher unfruchtbaren Bodens als um eine minimale Infrastruktur jenseits des schmalen touristischen Küstenstreifens. Doch an der Instandsetzung der brachliegenden Region haben weder Kaziken noch Drogenhändler großes Interesse. „In der Isolation lassen sich Land und Leute viel besser ausbeuten“, sagt Montemayor. Wer sich dagegen wehre, lebe in Guerrero gefährlicher als anderswo.

Die weißen Holzkreuze kurz hinter der Furt von Aguas Blancas, einem kleinen Dorf am Fuß der Sierra, sind alle frisch gestrichen und beschriftet. Siebzehn verschiedene Namen und immer dasselbe Todesdatum, der 28. Juni letzten Jahres. An diesem Tag waren zwei Lastwagen voller unbewaffneter campesinos, die meisten von ihnen Mitglieder der Bauernorganisation OCSS, in einen Hinterhalt der Polizei geraten. Die offizielle Notwehr-Version war schnell widerlegt: keiner der Polizisten erlitt Schußverletzungen, viele der Bauern wurden aus nächster Nähe hingerichtet. Die staatliche Menschenrechtskomission „empfahl“ daraufhin die Verhaftung einer Reihe hoher Regierungsfunktionäre. Darunter auch der damalige Landesinnenminister, der laut Augenzeugenberichten zusammen mit dem obersten Polizeichef im Hubschrauber über dem Tatort gekreist haben soll. In einem offenen Brief hatte dieser zunächst noch um „Verständnis“ für seine schießwütigen Untergebenen gebeten: man könne schließlich von einem „guerrensischen Polizisten nicht dasselbe verlangen wie von einem Schweizer Kollegen“. Erst ein halbes Jahr später präsentierten die Behörden der Öffentlichkeit ein paar Schuldige: 17 Uniformierte und vier kleinere Funktionäre müssen sich jetzt wegen Mordverdachts und Amtsmißbrauchs vor Gericht verantworten. Ihre Vorgesetzten aber sind nach wie vor auf freiem Fuß. Für hauptverantwortlich halten in- wie ausländische BeobachterInnen niemand geringeren als den Landesvater höchstpersönlich.

„Ohne den großen Papa entscheidet hier doch keiner was“, glaubt auch Paula Mendoza. Die stämmige Frau ist heute 66, ihr Mann Francisco war genau zehn Jahre älter. Seinen Leichnam haben ihr ein paar Männer in zivil am Morgen nach dem Massaker vorbeigebracht. Schon wenige Tage später wurden die siebzehn Witwen vom Friedhof weg in ein paar elegante Fahrzeuge verfrachtet und direkt zur Residenz von Figueroa kutschiert. Dort bekam jede 50.000 Pesos (etwa 10.000 Mark) auf die Hand – gegen das Versprechen, künftig „Ruhe zu bewahren“. Stillhalten aber werden die Witwen von Aguas Blancas nun gerade nicht. „Ich will diese Mörder genauso tot sehen wie meinen Mann“, sagt Paula und wischt sich die Tränen aus dem grossen Gesicht, „damit auch ihre Frauen spüren, wie sich das anfühlt.“

Das Provinzhauptstädtchen Atoyac im Herzen der guerrensischen Sierra gilt seit den 60er Jahren als Geburtsstätte subversiver Bewegungen im Lande. Statt „Viva Zapata“ steht hier immer wieder „Lucio lebt“ an den Häuserwänden. Gemeint ist der junge Dorfschullehrer Lucio Cabañas, der im Jahre 1967 nach einem Massaker in die Berge flüchtete und dort mit seiner 120köpfigen „Armenpartei“ sieben Jahre lang den Regierungstruppen standhielt; zuvor hatte der engagierte Lehrer jahrelang legal für die Einhaltung des Verfassungsversprechens auf kostenlose Bildung gekämpft. Selbst Maria de la Luz, seit 1993 parteilose Bürgermeisterin des Ortes, schwärmt von „unserem Lucio“. Direkt dem Foto dieses „mexikanischen Che“ gegenüber hängt allerdings auch ein großes Bild ihres gegenwärtigen Dienstherren, Rubén Figueroa.

Noch vor einem halben Jahr war esvor allem die Aussage der Bürgermeisterin gewesen, die den Gouverneur schwer belastete. In einem Telefongespräch hatte dieser ihr anvertraut: „Wir werden die campesinos auf jeden Fall stoppen“.Einen Tag später hatte er die „sorgfältig ausgeführte Operation“ gelobt. Heute aber setzt Maria de la Luz auf „Aussöhnung“ und „Dialog“. Was viele für „Verrat“ halten, bezeichnet die Funktionärin als „Erfolg“ ihrer Arbeit: ein neues Sozial- und Straßenbauprogramm für die Region, vor allem aber der Zuwachs an „Respekt“. Früher habe Figueroa sie immer abgewimmelt, sagt die blondgelockte Frau triumphierend, „heute beantwortet er mir jeden Telefonanruf“.

Eine Versöhnung hält padre Máximo dagegen für „fast unmöglich“. Der 64jährige Priester, der in Atoyac wegen seiner aufrüherischen Predigten ebenso verehrt wie gehaßt wird, hat „volles Verständnis“ für die Verzweiflung der campesinos. Habe es früher „600 Gründe“ für eine Revolte gegeben, seien es seit dem 28. Juni „mindestens 617“. Für derlei Ansichten ist er nicht nur wiederholt vom Dienst suspendiert worden, sondern hat sich auch diverse Morddrohungen eingehandelt. „Aber an Drohungen stirbt man nicht“, meint der hagere Mann gelassen. Und die Gewalt werde nun mal „eindeutig“ von der Regierung gesät. Die Narco-Umtriebe, mit der die allgegenwärtige Armeepräsenz gerechtfertigt wird, sei „billige Ausrede“.

Tatsächlich ist die Sierra Madre von Guerrero das wichtigste mexikanische Anbaugebiet für Mohn und Marihuana. Jeweils für ein paar Monate im Jahr werden arbeits- oder landlose campesinos angeheuert, um im unzugänglichen Hochland die illegalen Felder zu bestellen.

„Drogen schaden ihrer Gesundheit“ lautet der säuberlich gepinselte Hinweis auf dem Transparent, das über einer der Straßensperren der Bundespolizei weht. Alle Fahrzeuge würden hier, so die amtliche Begründung der Kontrollpunkte, von Uniformierten nach verdächtigem Kraut durchsucht. In Wirklichkeit aber geht es, ähnlich wie an den Militärkontrollen im chiapanekischen Krisengebiet, in erster Linie um Ausweiskontrolle und Personenregister. Und, wie Bertholdo nach dem Passieren der Sperre erläutert, „vor allem um Waffen“. Bewaffnete Gruppen in den Bergen? Der freundliche Regierungssprecher schüttelt energisch den Kopf. Nein, „keinerlei Anhaltspunkte“ gebe es dafür. Da ist der mexikanische Geheimdienst anderer Ansicht. In vertraulichen Dokumenten ist von nicht weniger als sieben „subversiven Gruppen“ in der Sierra die Rede, die auf Anweisung einer „Nationalen Guerilla- Koordination“ noch nicht an die Öffentlichkeit getreten seien. Zwar wird dieses Szenario von Oppositionsgruppen derzeit noch als „Vorwand“ für die weitere Militarisierung der Region bezeichnet. Dennoch, so glauben viele, könnte das klandestine Erbe jederzeit wiederbelebt werden. „Die mexikanische Regierung hat immer schon die beeindruckende Fähigkeit gehabt, den Krieg im eigenen Hause zu übersehen“, meint Carlos Montemayor. „Der Logik nach müßte es noch dieses Jahr zu einem bewaffneten Aufstand kommen“, sagt auch padre Máximo. „Aber hier ist eben nichts logisch.“