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■ Berlinale-AnthropologieVon der Idee freundschaftlicher Unterwanderung

Bevor die Geschichte selbst abfährt, wird sie im Ganzen angekündigt, und dies Ankündigen bildet eine eigene Darstellungsform. „Trailer“ nennt man sie im Kino, „Protokoll“ nannte man sie zu der Zeit, als Bilder beschriftete Rollen waren: das, was der eigentlichen Rolle vorausgeht.

Selten gerate ich in jenes Hotelviertel in unserer Stadt – Schweizerhof, Interconti –, welches genauso ausschaut, wie das sozialistische Ost-Berlin sich West-Berlin träumte, die gute Stube im Weltformat. Oder der Frisiersalon? – „Das schaut ja aus wie die DDR!“ möchte ich wieder mal rufen, als ich den „Konferenzflügel“ des Hotels betrete, so ein weißer Kubus mit viel Glas. (Die Milchbar?) Ältere Stadtbewohner erzählen gern, wie die von einem Bombenangriff aus ihren Käfigen befreiten Zootiere 1945 die Budapester Straße bevölkerten (Rückblende).

Jetzt findet sich hier das Pressezentrum, wo wir die nächsten zehn Tage ein- und ausgehen sollen; hier findet die erste Pressekonferenz statt, der Trailer, worin die leitenden Damen und Herren uns ankündigen, was kommt. Ulrich Gregor spricht gerade – ich fotografiere das Fernsehbild –: Dunkel erinnere ich mich der revolutionären Zeiten, als die jugendfrischen Freunde der Deutschen Kinemathek, vertreten durch Ulrich Gregor, von den fortgeschrittenen Kadern als angepaßte Scheißliberale attackiert wurden (Rückblende zwo).

Dann erzählt Wolfgang Jacobsen, erzählt innig von der William-Wyler-Retrospektive, und ich erinnere mich an den Klassenausflug 1960 ins Kino „Kaskade“ in Kassel, gemeinsam „Ben Hur“ bestaunen, was Fräulein Moscherosch organisiert hatte, im Sinne der christlichen Erziehung – freilich mit moderneren Mitteln –, die man uns angedeihen lassen wollte, damit nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg ... (Rückblende drei). You wouldn't believe it: 1960 schickte man im roten Hessen 17jährige Gymnasiasten in William Wylers Monumentalschinken „Ben Hur“, um sie über christliche Werte zu instruieren – mich hingegen beschäftigten die Liebesszenen zwischen Charlton Heston und Haya Harareet, wenn sie bei süß aufschwellender Musik einander umhalsten und wechselweise ihre Lippen aufeinander zu pressen schienen: Mir waren kürzlich meine ersten Zungenküsse zuteil geworden, und deshalb erfüllte mich Stolz, weil ich so unwiderruflich wußte, was solche Filmszenen eigentlich darstellen sollten ...

– Jetzt berichtet Wolfgang Jacobsen zärtlich von der äußerst zuvorkommenden Unterstützung, welche der Wyler- Retro seitens gewisser US-Unternehmen zuteil wurde, und mich beschäftigt wieder einmal die Idee der freundschaftlichen Unterwanderung, zu welcher der Sozialismus unfähig war. Jene kulturrevolutionären, wider den US-Imperialismus kämpfenden Kinogeher von 1970 (denen Ulrich Gregor zu scheißliberal war) – es wird kommen der Tag, da werden sie direkt von Hollywood finanziert. So wie schon heute die Amerikaner den weitaus gelungensten Typus des „Europäischen Films“ auf die Beine stellen (Jarmusch, Hartley, Stillman), um den gewisse einheimische Kritiker dringlich bitten (worüber ich mit meinem alten Freund Scheel – „der Ratzinger der Hollywood-Orthodoxie“ – zu flachsen pflege).

– Wie Sie sehen: ich höre nicht richtig zu bei der Pressekonferenz. Ich verzichte auch auf Mitschreiben. Ich fotografiere herum, den Kameramann, der das gut ausgeleuchtete Podium mit den leitenden Damen und Herren aufnimmt und der – filmisch! – mit dem Bild von Ulrich Gregor auf dem Fernseher so zusammengebracht werden kann, als wäre das eine das Ergebnis des anderen.

Warum schreiben die Kollegen so eifrig mit? Steht nicht alles Verwendbare schon im Pressematerial? Sie schreiben mit, weil dies nicht bloß ein Ereignis ist, sondern ein Schauspiel. Mitschreiben ist – neben filmen und fotografieren – die angemessene Form der Beteiligung für alle unterhalb des Podiums, ja, wir spielen mit. Zwar ist dies nur die Vorankündigung der eigentlichen Geschichte, aber ein wenig muß sie auch schon das Kino selber sein, filmbar, fotografierbar, beschreibbar. Sonst ist sie nicht einmal die Vorankündigung.

So sind wir alle schon ein wenig erhöht und mustern einander stolz als Bedeutende. Dieser Herr dort in Pepitasakko mit schwarzem Rollkragenpullover, elegant verfettet – warum, verdammt, fällt mir nicht ein, wer das ist? Er aber schaut zurück, als wüßte ich es genau. Michael Rutschky

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