Zwischen den Rillen
: Jugend schweißt

■ Frickel-Jungle fürs Wohnzimmer: Jacob's Optical Stairway

Mark Mac und Dego sind, was Jungle betrifft, richtige Oldies. Oder sagen wir Pioniere. Seit Ende '89 basteln sie an Ausdrucksformen jenseits der straighten Techno-Marschroute; eine Arbeit, die die zwei Beatforscher sehr früh auf Drum & Bass stoßen ließ. Auf ihrem Label Reinforced Records, als Remixer unter anderem für Courtney Pine, unter diversen Projektnamen und hauptamtlich als 4 Hero definierten sie Jungle an der Hardcorespitze im Dancefloor-Epizentrum London entscheidend mit.

Jetzt haben sie Drum & Bass an einen Ort katapultiert, der bislang auf kaum einer Jungle- Landkarte verzeichnet war. Ihr neues CD-Projekt Jacob's Optical Stairway ist der Breakbeat- Soundtrack fürs Wohnzimmer: eine Reise in verschiedene Aggregatzustände zwischen Drum & Bass-Unterbau und Sample- Überbau. Für das System Jungle, das sich über allnächtliche Innovationen auf dem Dancefloor mit Dub Plates, Promo- Pressungen und der derzeit schnellsten Umlaufgeschwindigkeit des musikalischen Kapitals austauscht, sind Jacob's Optical Stairway ein Sprung in eine neue Dimension: Breakbeats auf Listening-Level.

Die hoch- und runtergepitchten Breakbeats, durch Phaser gejagt, zerfrickelt, zerstückelt, in Molekularteilchen zerlegt, wieder zusammengesetzt, rückwärts abgespielt – sie fungieren als Taktgeber einer schwerelosen Welt (fast) ohne Sprache, in der via Sample jene Bilder entstehen, die Mark und Dego uns für den virtuellen Lehnstuhl zur eigenen Ausgestaltung kredenzen. Die Bässe, die bei amtlichen Jungle-Produktionen gerne in abenteuerlichen Tiefen pochen und bei jedem gesunden Rave für vibrierende Decken und Wände sorgen – sie mäandern vergleichsweise jazzig zurückgenommen durch die Stairway-Tracks: Das darf man laid back nennen – für Jungle-Verhältnisse allemal. „Wir kreieren Sounds“, sagt Dego, „um hörbare Bilder zu schaffen“.

Diese Bilderwelt des DJ- und Produzenten-Duos aus dem Londoner Norden ist voller Anspielungen auf ihr eigenes Bezugssystem: In Titeln wie „The Naphosisous Wars“ und „20 Degrees Of Taurus“ lassen sie ihre geliebten Science-fiction- Phantasien anklingen, die allenfalls ferne Ahnungen von Formen und Farben und Klängen in uns wachrufen. The Future Sound Of Tomorrow – er hat noch kein festes Regelwerk für Bildsprache.

Ihre Präsenz in der realen Popwelt können und wollen Jacob's Optical Stairway aber auch nicht leugnen. Das Referenzsystem der schwarzen DJ-Kultur verlieren sie über die knapp 56 Minuten dieser CD nie aus dem Sampler. Kollaborationen mit Detroit-Techno-Godfather Juan Atkins und Josh Wink auf zwei Tracks markieren überzeugend jenen Bereich von Fusion, den ihre Musik verträgt, ohne die eingetragene Handschrift zu verlieren.

Die hat einen geschmackssicheren Eklektizismus zur Grundlage: Da ist erst einmal eine schwebende Soul-Jazz-Leidenschaft, die in Basslinien, Gitarrenakkorden und einzelnen Bläsersätzen manifest wird und verschiedene Tracks wie mit Geisterhand verbindet („Majestic 12“, „Jacob's Optical Illusion“). Und wenn man weiß, daß Herbie Hancock auf der Liste der musikalischen Einflüsse für die beiden Jungle-Aktivisten ganz oben steht, läßt sich die kühne Jazz-Architektur auf dieser CD bereits etwas einfacher lesen. Dazu kommen House- und Ambient-Produktionen strukturell verwandte Soundschichten, die in der Bearbeitung durch die beiden Cutter und Monteure nicht mehr auf Herkunft und Jahrgang festgenagelt werden können.

Was allen Elementen auf dieser CD gemein ist: Sie befinden sich im Zustand der Auflösung von einer Zeit/Raum-Koordinate in eine andere, sie werden zu kleinen Agenten des Wandels. Ob analog oder digital – scheißegal. Bestes Beispiel: Wie aus einem „Twin Peaks“-ähnlichen Strings-Motiv auf „The Engulfing Whirlpool“ durch verschiedene Metamorphosen ein zischendes, zirpendes Elektro-Symposium wird, das mehr – um mal ein Bild aus dem eigenen Kopf zu holen — wie der Nachwuchslehrgang zu „Jugend schweißt“ klingt. In „Harsh Realities“ ist es eine Vocoder- Stimme, die den Hörer immer wieder wie ein kleiner Kasper aus dem Breakbeat-Sog in andere Sphären zieht.

Goldie etablierte Jungle letztes Jahr mit der Meilenstein-CD „Timeless“ endgültig als Longplay-Format und also bei einem breiteren Pop-Publikum. Er verlieh der Breakbeat-Bewegung via MTV auch eine Optik. Jacob's Optical Stairway nun können mit der ihnen eigenen Sophistication auf dieser Basis operieren: Sie erklären den Jungle-DJ zum 24-Stunden-Begleiter von Dir und mir. Frank Sawatzki

Jacob's Optical Stairway: Dito

(R & S Records/ Rough Trade)