■ Italiens Verfassung ist zum Handelsobjekt geworden. Interview mit dem Verfassungsrechtler Alessandro Pace
: „Ein Präsidialsystem wäre gefährlich“

taz: Antonio Maccanico, der „zäheste Vermittler Italiens“, ist an der Regierungsbildung gescheitert. Das lag vor allem an den unterschiedlichen Vorstellungen der vorgesehenen Koalitionspartner von der Verfassungsreform, die sein Kabinett vornehmen sollte, um das Land wieder regierbar zu machen. Was sind die Schwachpunkte des politischen Systems, die beseitigt werden sollen?

Alessandro Pace: Eigentlich handelt es sich um eine Krise des Parlaments. Wir haben in Italien eine exzessive Zersplitterung der Parteien. Einige Parteien, wie Silvio Berlusconis Forza Italia, sind nicht einmal intern nach demokratischen Prinzipien organisiert. All das hat negative Auswirkungen auf die parlamentarische Arbeit. Kommissionen zu besetzen und Gesetzesvorhaben durchzuführen, ist fast unmöglich. Dem gegenüber haben wir Regierungen, die, zumindest auf dem Papier, mehr normative Macht haben als in irgendeiner anderen westlichen Demokratie. Besonders die Technokraten-Kabinette seit Ciampi haben verstärkt mit Hilfe der decreti legge regiert, Regierungsverordnungen mit Gesetzeskraft, die eigentlich für Ausnahmesituationen vorgesehen sind und innerhalb von 60 Tagen in Gesetze umgewandelt werden sollten. Manche dieser Dekrete wurden inzwischen schon vierzehn- oder fünfzehnmal erneuert, ohne daß sich eine parlamentarische Mehrheit für ihre Umwandlung gefunden hätte. Das Parlament ist einfach zu fragmentiert.

Die Große Koalition der beiden Blöcke – Mitte/Links um die exkommunistische PDS und die Rechte aus Postneofaschisten und der Partei Berlusconis – möchte den gesamten Staatsaufbau und die Machtverteilung ändern. Läßt die Verfassung solch weitreichende Reformen überhaupt zu?

Vom juristischen Standpunkt aus ist die ganze Verfassung veränderbar, außer Artikel 139, der die Staatsform der Republik festschreibt. Persönlich bin ich der Meinung, daß wir jedoch im Rahmen der jetzigen Verfassung bleiben sollten. Schon allein deshalb, weil eine Verfassung in ihrer Stabilität auch immer ein Identifikationsobjekt für die Bürger sein sollte. Ein Haus mit kaputtem Dach baut man nicht komplett neu auf. Ich würde das Wahlrecht vereinfachen und die Parteien zu einer demokratischen inneren Organisation verpflichten. Außerdem müßte man verhindern, daß sie sich vor den Wahlen zu Koalitionen zusammenschließen, nur um sich danach wieder aufzusplittern. Alle Splitterparteien eingerechnet, waren wir in dieser Legislaturperiode schon bei 28 parlamentarischen Gruppen angelangt. Die Exekutive müßte gestärkt werden und vielleicht wie der deutsche Kanzler eine wirkliche Richtlinienkompetenz erhalten, die auch die Entlassung von Ministern einschließt.

Mit einer Fünfprozenthürde wie in Deutschland?

Wenn wir zu einem reinen Verhältniswahlrecht zurückfänden, ja. Das Problem des Vorschlags zur Wahlrechtsreform schon 1992 war, daß eigentlich viele dafür waren, er aber leider gerade von Bettino Craxi [damaliger sozialistischer Premier; taz] kam. Das war quasi der letzte Rettungsversuch für das alte System. Dadurch war der Vorschlag unannehmbar geworden. Das neue Wahlrecht bescherte uns dann Berlusconi, der nichts anderes ist als das zweite Gesicht Craxis. Es gibt niemanden, der so tief wie er in das alte System verstrickt war.

Aktuell wird aber das französische System einer gemäßigten Präsidialherrschaft favorisiert.

Zunächst muß man sehen, was sich hinter diesem Etikett verbirgt, und was die checks and balances wären. Die Franzosen haben damals in Versailles in einer Woche eine Verfassung entworfen, die die Vorteile des parlamentarischen und des präsidialen Systems vereinigen sollte. Am Ende hatten sie keines von beiden. Die Cohabitation Mitterrand/Chirac hat uns gezeigt, daß der Regierungschef von einer anderen Partei sein kann als der Präsident, aber beide blockieren sich dann gegenseitig. In solch einem Fall ist das parlamentarische System effizienter, wenn es denn eine klare Mehrheit gibt wie in Großbritannien.

Also eine klare Absage an den presidenzialismo, wie er von der extremen Rechten vertreten wird?

Italiener haben eine unglaubliche Phantasie, wenn es darum geht, auf legalem oder illegalem Weg Gesetze zu umgehen. Man sagt hier, ein Verbot sei eine Einladung zum Ungehorsam. Diese Charaktereigenschaft macht es sehr schwer, eine Gemeinschaft zu regieren. Italiener müssen mehr mit Anreizen als mit Verboten regiert werden. Deswegen beunruhigt mich die Idee eines Präsidenten, der mit weitreichenden Machtbefugnissen ausgestattet und mit plebiszitären Instrumenten an das Volk gebunden ist. Dieses Modell erscheint mir wie eine exzessive Vereinfachung einer Realität, die in Wirklichkeit unglaublich vielfältig ist. Wir denken, damit endlich eine Lösung gefunden zu haben, tatsächlich handelt es sich aber nur um eine formale Lösung. Eine so komplexe Realität wie die italienische kann man nicht in die Zwangsjacke eines Präsidialsystems sperren. Mir kommt das vor wie ein Korken auf einer Champagnerflasche, am Ende explodiert sie.

Sie haben gesagt, daß theoretisch fast die ganze Verfassung veränderbar ist. Gleichzeitig waren sie der erste, der sich vehement gegen die Verabschiedung neuer Verfassungsartikel en bloc gewendet hat.

Dazu muß man wissen, wie Verfassungsänderungen vorgenommen werden können. Die meisten Verfassungen der Welt sind rigide, das heißt festgefügter, stabiler als normale Gesetze. In den meisten Ländern gibt es jedoch auch ein spezielles Verfahren, um die Verfassung gesellschaftlichen Veränderungen anzupassen. Eine Möglichkeit, auch in Italien, ist eine Zweidrittelmehrheit in beiden Kammern. Es gibt aber auch die Möglichkeit einer einfachen Mehrheit in beiden Kammern. In diesem Fall kann zwischen den beiden vorgesehenen Lesungen ein Referendum beantragt werden. Damit soll die Opposition die Möglichkeit erhalten, eine Verfassungsänderung vom Volk untersagen zu lassen. Unser Verfassungsgericht hat schon bei normalen Referenden die logische Kohärenz innerhalb eines einzigen Referendums vorgeschrieben. Meiner Meinung nach gilt das um so mehr für Verfassungsartikel. Bei En-bloc-Abstimmungen befürchte ich, daß sich die Große Koalition ein Zugpferd ausdenken könnte, dem alle Bürger zustimmen – etwa daß die Steuern 50 Prozent nicht übersteigen dürfen. Mit solch einer publikumswirksamen Aktion kann man fast alles genehmigt bekommen.

Wenn Sie aber über jeden Artikel einzeln abstimmen lassen wollen, bekommen Sie eine Verfassung in Form eines Flickenteppichs.

Meiner Meinung nach müssen die Artikel in koheränten Gruppen zusammengefügt werden: ein Referendum für die Regierungsreform, ein anderes für den Föderalismus etc. Ich möchte nur daran erinnern, daß von 184 Artikeln der Verfassung im Moment 84 zur Disposition stehen! Interview: Clemens Wergin