Angstpop, Meisterklasse

Das 14. Leben des Lou Reed: „Set The Twilight Reeling“, ab heute in den Läden, ist eine klassische männliche Bekenntnisplatte. Aber auch ein lyrisches Lob der Frau. Der „Baudelaire von New York“ erzählt von seinen Wanderungen, wo er blind ward, wo ihm im Herzen der Finsternis ein Erzengel erschien und mit wem er gern „hookywooky“ machen will  ■ Von Thomas Groß

Niemand liebt dich, wenn du unten und draußen bist. Was aber, wenn du eine Million Dollar im Jahr verdienst und gleich mehrere Generationen dünner Männer in Jeans und T-Shirt dich als Helden verehren? Staatsoberhäupter wie Václav Havel mit dir zu Abend essen? Wenn du in die Rock 'n' Roll Hall of Fame aufgenommen wirst und Newsweek dein letztes Album als „reifste Rockplatte, die je gemacht wurde“, feiert? Dann bist du entweder jenseits von Gut und Böse, oder du hast ein Problem. Was im Rock 'n' Roll in der Regel aufs gleiche hinausläuft.

Lou Reed erwischte es gegen Mitte der Neunziger. Plötzlich hatte er das umgekehrte Karrieredilemma wie damals, als er von Freeport, dem allamerikanischen Nest auf Long Island, nach Manhattan zog, um als zorniger junger Songdichter berühmt zu werden: Hatte die Welt sich in den Midsixties zunächst noch geweigert, sein Genie angemessen zur Kenntnis zu nehmen – und so gewissermaßen selbstverschuldet die frühe Climax eines Helden verpaßt –, so bot sie ihm nun, nach 30 Jahren Laufzeit, fast keinen Widerstand mehr. Du willst ein Ständchen bringen zu Bob Dylans Fünfzigstem, Lou? – Kein Problem! Eine Aids-Gala? – Löblich, durchaus! Selbst den bedrohten Farmern im Mittleren Westen wurde von Lou beherzt unter die Arme gegriffen. Und, hey, wie wär's mit einer kleinen Velvet-Underground-Reunion?

Die vermasselte er zwar nach ein paar Konzerten, doch ansonsten: Benefits, Honoratiorentreffen, Soli-Aktionen – Lewis Reed, der ehrgeizige jüdische Junge aus der Vorstadt, hatte sich im Laufe der Zeit fast zu Tode überlebt. Keiner mehr da, der ihm den Titel „Baudelaire von New York“ streitig machen wollte oder konnte. Viele waren gestorben (Drogen, Aids, Krebs), auch Warhol tot und in einem Requiem („Songs for Drella“) besungen, Ex-Velvet- Konkurrent John Cale auf die Plätze verwiesen – und doch ins immer gediegener werdende Klassikerleben integriert.

Lou Reed war verheiratet, hatte den Drogen abgeschworen, und irgendwie war es ihm ja zu gönnen nach all dem Street Hassle, Rumhängen und Warten auf den Mann, bloß: Was hatte das alles noch mit dem frühen Pathosprogramm zu tun? Sätzen wie „Ich habe eine große Entscheidung getroffen / Ich werde versuchen, mein Leben zu annullieren“ („Heroin“)? Auf Reed-Konzerten saß man mucksmäuschenstill und nüchtern, „die ganze Sache verströmte die Atmosphäre einer Angstpop-Meisterklasse“, schrieb der britische New Musical Express, und, mal ehrlich: Sah der Meister mit seiner randlosen Brille und dem zum Nackenspoiler ausgewachsenen Haupthaar in den letzten Jahren nicht ganz schön scheiße aus?

Doch manchmal geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, eine Katze, heißt es, habe neun Leben, und Lou Reed rechnet gar mit 14. „I want a trade in“, singt er auf seinem neuen Album. Rausspringen soll dabei „a 14th chance in this life“.

Mit 54 Jahren das eigene Leben noch einmal umzutauschen gegen ein anderes, womöglich weniger abgenutztes – das ist, gemessen am Durchschnittsvermögen Sterblicher, kein geringes Begehr. Es ist wie an die Himmelstür klopfen, nicht um dort Einlaß zu finden, sondern um endlich wieder auf die alte Erde zurückgeschickt zu werden. Aufstand der Wünsche, Versuchung des Schicksals, Kampf gegen die Götter. Großes Antikonsolidierungsprogramm, durchaus klassisch: Stirb und werde. Der König ist tot, es lebe der König. Aber das Album heißt ja auch „Set The Twilight Reeling“ – bring das Zwielicht zum kreiseln. Das können nur selbsternannte Giganten. Prometheus Reed erzählt von einem neuen Mann, den er eines Tages um 8 Uhr morgens in sich gefunden hat, „in the pocket of the heart ... in the rushing of the blood ... in the muscle of my sex ...“

Das dramatische Gedicht, das diese Platte ist, kennt mehrere Stationen. „Egg Cream“, das Eröffnungsstück, ein kurzgebratener Riffrocker, geht in die Kindheit zurück, zu Becky's am King's Highway, wo es den besten Eierschaum der Stadt gab („er gab dir Kraft bei Messerstechereien ...“). Die Orte sind authentisch, die Süßigkeiten auch. Der „New York City Man“ taucht auf, Nachfahr des Flaneurs und Reeds erzählerischer Schatten, bringt hier aber keine Kunde aus dem Bauch der Großstadt. Vom sozial engagierten Reed ist eine Hymne geblieben, „Sex With Your Parents“, ein Haßlied auf die republikanische Partei (alles MOTHERFUCKER!), ansonsten ist die dritte Person, in der der „Prince of Stories“ in den letzten Jahren seine Geschichten erzählte, durch die erste abgelöst. „Set The Twilight Reeling“ ist eine klassische männliche Bekenntnisplatte. Sie läßt den Hörer wissen, wo der Held in die Irre ging, wo es ihm, der blind ward, wie Schuppen von den Augen fiel, wo ihm ein Erzengel erschien, was die Quintessenz aus allem ist, und mit wem er, Reed, gerne „hookywooky“ machen will.

Also auch ein poetischer Beitrag zur Philosophie der Liebe, eine Art Minnesang. Gegenpart des „I“ ist eine „Woman With A Thousand Faces“ (offenbar Laurie Anderson, der die Platte gewidmet ist), Objekt verschiedener Formen der Aufwartung, Einfühlung, Preisung und sonstigen Inspiration – von der simplen Anmache bis hin zu dem Aufruf, daß man seinen Gefühlen trauen soll.

Die Vielgestaltige begegnet uns als Mondgöttin, Gezeitenfrau, verschwistert mit den Strudeln der Meere. Sie ist Abenteurerin, Bergebezwingerin, wiedergeborene Königin, Unternehmerin in eigener Sache, kongeniales Wesen – der Schlüssel zu der Macht, das Zwielicht kreiseln zu lassen. An den Iden des März zerbrach sie ihm, dem Imperator, das Herz, und jetzt erzählt er ihr, daß Blume und Wurzel, Feuer und Asche, Apfel und Kern, Dichtung und Wahrheit zusammengehören und alles insgesamt doch einen Sinn ergibt, denn „we were meant to be“ („The Proposition“ – der Antrag).

Etwas altersirre will einem dieses Phantasieren über das Ewigweibliche gelegentlich erscheinen – Onkel Lou, das Rock 'n' Roll Animal, der ewige Transformer und Drogenesser in der späten Rolle des „Fool in Love“. Doch wer je dem kulturgeschichtlichen Modell des Songs – als Gefäß gas- oder tropfenförmiger, in jedem Fall flüchtiger Momentansensibilitäten – ein Ohr geliehen hat, den muß rühren, wie Reed hier der Wiederholung, dem Scheitern, dem falschen Gelingen und dem Übermaß an Geschichte auf seinen schmalen Gigantenschultern zu entkommen versucht.

Er tut es nämlich, wie immer, nicht, indem er sich Extravaganzen erlaubt, das Format sprengt, sondern indem er das, was er kann, auf die Spitze treibt. Erlösung durch Beharrungsvermögen, ein Transzendenzmodell, das ganz auf dem Zusammenspiel einer brüchigen Stimme und zweier arbeitsamer („Work“ war das Warholsche Grundthema) Rhythmusgitarren beruht.

Und diesmal noch näher an der Sekunde der wahren Empfindung! „Set The Twilight Reeling“ wurde mit einem neuartigen Verfahren aufgenommen, das endlich die absolut unverfälschte Wiedergabe des Gehörten erlaubt. Ein Tick, aber ein sinnstiftender. Wir hören es genau so, wie Lou es mit seiner Minimalband gespielt und gesungen hat – seines Meisters Stimme, vom Herzen über die Technik direkt in das Ohr. „Nehmen wir uns ,Schuld und Sühne‘ und machen daraus einen Rocksong“ – noch nie ist Lou Reed seinem Ideal nähergekommen wie mit dieser 22. LP, die Velvet-Underground-Aufnahmen exklusive.

Als Soundfetischist ist ihm die Minimierung der Redundanz gelungen, die ein Gefühl von seiner technischen Reproduzierbarkeit trennt; als Songdichter hat er das Boy-meets-Girl-Schema der Popmusik zu einer „literarischen“ Kunstform ausgestaltet, die sich an Erwachsene richtet, ohne sich mit den Konsolidierungen der Erwachsenenwelt – dem Geld, dem Erfolg – wirklich abzufinden. „Blink an eye and I'll be gone“, singt der New York City Man vor einem Schleier aus zartestem, handgewebtem Jazzfunk, und man glaubt es ihm aufs Wort.

Die tollkühne Konstruktion des Rocksongs als Ort alltäglicher Dramen im Sinne Dostojewskis aber ist ihm noch mal gelungen. „Ist das alles echt?“ hat Reed bereits in einem älteren Text gefragt – und sich selbst die einzig mögliche Antwort gegeben: „Ja, sagte er, ja, ja, ja.“

Lou Reed: „Set The Twilight Reeling“ (WEA)

Eine Biographie von Victor Bockris („Lou Reed – Walk On The Wild Side“) ist im Hannibal Verlag erschienen, 381 Seiten, 50 DM.