Fristverlängerung oder Dauererhalt?

■ Streit über die Vernichtung von NS-Justizakten: Justizbehörde und Staatsarchiv widersprechen sich entschieden

Aufgeschoben ist nicht aufgehoben, befürchtet Norbert Finzsch, Geschichtsprofessor an der Hamburger Universität. Dem Versprechen von Justizsenator Wolfgang Hoffmann-Riem, daß in Hamburg zukünftig keine NS-Strafakten mehr vernichtet werden, mag der Wissenschaftler nicht trauen. Der Grund: Die Leitung des Staatsarchivs lasse „weiterhin vermeintlich nicht archivwürdige Akten aussortieren“, um „die bisherige Vernichtungspraxis fort(zu)setzen“.

Seit 1986 siebt das Hamburger Staatsarchiv Gerichtsakten aus der NS-Zeit in großem Maßstab aus und läßt – aus Platzgründen – alles im Reißwolf verschwinden, was nach „wissenschaftlichen Auswahlkriterien“ nicht als Quelle zur historischen Aufarbeitung des Nationalsozialismus' taugt. Während Archivleiter Hans-Dieter Loose behauptet, daß vor allem „meterweise Verkehrsakten“ in Altpapier verwandelt wurden, spricht Finzsch von der Massen-Vernichtung auch solcher „Strafakten, die Auskunft über die Verfolgung der sogenannten 'vergessenen Opfergruppen' – etwa Homosexuelle – Auskunft geben können.

Nachdem zahlreiche Schwulen- und Lesbenorganisationen, aber auch internationale NS-ForscherInnen und sogar der Stadtrat von San Francisco Protestschreiben an Bürgermeister Henning Voscherau gerichtet hatten, ließ Justizsenator Wolfgang Hoffmann-Riem die Aktenauslese vor wenigen Wochen stoppen. Doch Historiker Finzsch befürchtet nun, „daß die Vernichtung der Akten zu einem späteren Zeitpunkt angestrebt wird“, wenn sich die Öffentlichkeit wieder beruhigt hat.

Das bestätigt indirekt auch Hans Wilhelm Eckardt: „Es geht zur Zeit nur um eine Verlängerung der Aufbewahrfristen.“ Der Abteilungsleiter des Staatsarchivs bestätigt, daß die Akten weiterhin geflöht und in „archivwürdig“ und historisch wertlos unterteilt werden. Laut Eckardt sei es dem Staatsarchiv nicht möglich, auch die Akten der Fälle vollständig zu archivieren, in denen sich die Zugehörigkeit eines Täters zu einer von den Nazis verfolgten Minderheit nicht strafverschärfend auf das Urteil ausgewirkt habe. Eckardt: „Nach datenschutzrechtlichen Bestimmungen müssen die meisten Akten vernichtet werden.“

Dem widerspricht die Sprecherin der Justizbehörde, Sabine Westphalen, entschieden: „Wir sehen keine rechtlichen Probleme, die aussortierten Justizakten weiterhin zu lagern“. Entgegen der Interpretation des Abteilungsleiters gehe es Senator Hoffmann-Riem auch nicht um eine bloße Verlängerung der Akten-Aufbewahrungsfrist, sondern um einen Erhalt auf Dauer. Westphalen: „Wir haben die Vernichtung gestoppt – unbefristet.“

Marco Carini