Reine Heroin-Junkies sind rar

■ 120.000 Drogenkonsumenten gibt es in Deutschland: Ein Leben mit Methadon und HIV-Infektion und Knast und Tod

Schätzungen zufolge spritzen in Deutschland mehr als 120.000 Konsumenten harte Drogen. Die tatsächliche Zahl aber dürfte weit höher ausfallen. Denn viele Fixer sind sozial integriert, strafrechtlich nicht auffällig geworden. Überraschend: Jeder dritte Junkie hat Kinder.

Fast zwei Drittel der intravenösen User sind männlich. Das Durchschnittsalter aller Junkies liegt bei 25 bis 28 Jahren. Im Schnitt beginnt der Konsum von harten Drogen mit 18. Am Anfang werden die Substanzen meist gesnieft oder geraucht, später gedrückt. Intravenös wirken Heroin und Kokain schneller, intensiver, länger. Die Tagesrationen variieren individuell sehr stark, der Körper entwickelt eine „Toleranz“. Das heißt: Um die gleiche Drogenwirkung zu erreichen, muß die Dosis laufend erhöht werden. Nach jahrelangem Dauerkonsum kann die tägliche Heroin- oder Kokainmenge auf drei Gramm und mehr steigen. Praktisch jeder Fixer hat Entzugsversuche unternommen. Manche bis zu zwanzig.

In Berlin geht man von rund 8.000 bis 10.000 Usern aus. Gedrückt werden vor allem: Heroin, Kokain, Tranquilizer. Und gelegentlich sogar Speed – Amphetamin und das besonders potente Metamphetamin. In Labors synthetisch hergestellte Designeropiate mit der mehrfachen Potenz von Morphium oder Heroin sind bislang selten. Lediglich eine verschwindende Minderheit gebraucht nur eine einzige Droge. Die meisten verwenden fünf oder mehr psychotrope Substanzen gleichzeitig. „Politoxikoman“ heißt das Fachwort. Und im Vergleich zu den 70er und 80er Jahren ist der reine Heroin-Junkie längst zur echten Rarität geworden. Die Folgen sind fatal. Unvorhergesehene körperliche und psychische Wirkungen treten bei Mischkonsum auf: Psychosen, Kreislaufversagen, Atemstillstand.

Insgesamt sinkt die Zahl der Drogentoten seit mehreren Jahren. Bundesweit. Wesentliche Gründe: umfassendere Substitutionsprogramme mit Methadon und L-Polamidon, kostenlose Verteilung von Einwegspritzen, leichter zugängliche medizinische Versorgung. Gegenwärtig werden in Deutschland rund 20.000 Drogenkranke mit Methadon substituiert, in vielen Großstädten existiert ein breit gefächertes Angebot an Hilfen. Von der Prävention über die Therapie bis hin zur Nachsorge. Dennoch herrscht an Langzeittherapieplätzen ein eklatanter Mangel: Auf je 30 Junkies kommt ein Platz. Die drogenpolitischen Unterschiede in den einzelnen Bundesländern sind groß, ein Nord- Süd-Gefälle sticht ins Auge: je südlicher, desto weniger suchtbegleitende Hilfen, desto stärker die Repression.

Wie Frankfurt oder Hamburg setzt auch Berlin auf eine realistischere Drogenpolitik. Nicht Abstinenz um jeden Preis, heißt die Devise, auch suchtbegleitende Hilfen werden finanziert. Die Zahl der Toten sank in der Hauptstadt von 142 im Jahr 1993 auf 93 im vergangenen Jahr. Ausstiegshilfen und die Substitution von 1.300 Junkies haben dazu beigetragen. Szenenahe Kontaktcafés – niedrigschwellige, vom Senat finanzierte Einrichtungen – bieten kostenlose Überlebenshilfen für Abhängige an: Spritzenvergabe, Kondomverteilung, ärztliche Betreuung, juristische Beratung, Essen, Waschgelegenheiten. Ein Problem aber bleibt. Wie überall in Deutschland. Für eine schnelle und unkomplizierte Inanspruchnahme der meisten therapeutischen Einrichtungen muß der Abhängige zumindest noch über eine Meldeadresse verfügen. Nur jeder zweite Suchtkranke aber lebt in gesicherten Wohnverhältnissen, jeder zehnte steht auf der Straße. Und für den Knast-Junkie gibt es ohnehin nur strikte Abstinenz oder das Risiko, sich mit Aids oder Hepatitis zu infizieren. Dabei haben 80 Prozent aller Abhängigen Knasterfahrung. Durchschnittlich saßen sie 2,9 Jahre ein, und nur eine verschwindende Minderheit lebte in der Haft clean. Doch während in der Schweizer Modellanstalt Solothurn drogenkranke Strafgefangene sogar Heroin vom Staat erhalten, sind in deutschen Gefängnissen selbst Spritzenautomaten tabu, teilen sich bis zu zehn Süchtige eine „Pumpe“.

Entsprechend hoch sind die HIV-Infektionsraten. In der Gesamtszene testet jeder fünfte positiv, und bei drogenabhängigen Prostituierten liegt die Rate bei dramatischen 50 Prozent. Rund zwei Drittel aller Frauen gehen irgendwann im Laufe ihrer Drogenkarriere der Beschaffungsprostitution nach. In der Regel etwa drei Jahre nach dem Erstkonsum harter Drogen. Solange der Körper es mitmacht, schaffen sie an. Im Schnitt zwei bis vier Jahre. Beschaffungskriminalität wie Einbruch, Diebstahl, Raub ist eher eine Männerdomäne. Genauso wie der Drogenhandel.

Zum Vergleich: Den 120.000 bis 150.000 Fixern stehen in Deutschland 2,5 Millionen Alkoholiker und über eine Million Tablettensüchtige gegenüber. 1995 starben rund 1.500 Menschen an illegalen Drogen, 40.000 an Alkohol, 90.000 an Folgen des Tablettenkonsums.