Allerdings fehlt das übliche Vogelpiepen

■ Etwas wie Frieden: Ein Spaziergang auf ehemaligem russischem Militärgebiet

Sonntags raus muß sein. Das ist so eine Art Kollektivdrang, alle kriegen glasige Freizeitaugen und entwickeln diesen fatalen Hang zum Grünen hin. So wie an einem der ersten sonnigen Sonntage, als im Treptower Park halb Berlin seine Frühlings- und Sommergarderobe vorführte. Wobei es mir immer ein Rätsel bleiben wird, wie sich die noch steigern wollen, die schon am Anfang mit dem denkbar knappsten Minirock und rückenfrei auftrumpfen. Die andere Hälfte der Bevölkerung verbringt Stunden im Auto, um dann endlich irgendein Stückchen unberührter brandenburgischer Natur mit sich zu beglücken. Und der Rest? Der Rest hält sich für was Besseres, wie gewöhnlich.

Früher mußte ich sonntags immer das Badezimmer putzen, nun hieß es neulich: raus ja, aber nicht so weit, damit bis zum „Weltspiegel“ die Glotze schon warmgelaufen ist. Also fuhren wir die Heerstaße lang in Richtung Dallgow, in den Kreis Nauen rein, ließen den ehemaligen Flugplatz Staaken noch hinter uns und stellten dann irgendwann das Auto ab.

Eine typische Stadtrandlage außerhalb der Häuserzone: Felder mit Wintergetreide wechseln mit Brachland, hin und wieder passiert man kleine Seen mit üppiger Ufervegetation. Wilde Müllhalden an fadenscheinigen Plätzen verleihen der Gegend einen gewissen Pfiff. Je weiter man in diese halb sich selbst überlassene Nutzlandschaft eindringt, desto mehr Reize entfaltet sie. Plötzlich stößt man etwa auf eine Talsenke mit alten Bäumen und Schilf an den sumpfigen Rändern. Und kein Mensch weit und breit, außer einem selber.

Aber das ist noch nicht alles: Plötzlich steht man vor einer weiträumigen, jedoch vielerorts bequem durchgängigen Einzäunung. Dahinter liegt gestaltete Landschaft par excellence. Nicht Lenné, nicht Pückler-Muskau, sondern ein russisches Militärgebiet. Der Wald ist teilweise gerodet; großzügig verteilt stehen ein riesiges und viele kleine und winzige Gebäude da rum. Buschgruppen und Bodenunebenheiten lockern das Ambiente zusätzlich auf. Die Häuser selbst sind ratzekahl leergeräumt und ruiniert. Das Haupthaus ist riesig mit unten Panzergaragen, natürlich leer; die oberen Etagen waren wahrscheinlich für die dazugehörigen Menschen eingerichtet. Bis auf die liebevoll gestrichenen Wände ist nichts mehr da: kein Waschbecken, keine Türklinken.

Die Eingänge für die Panzer und sonstigen militärischen Nutzfahrzeuge sind zwar größer als je ein Scheunentor in seinen kühnsten Träumen, für die Verriegelung reicht aber ein kleines Holzknöchelchen in einem rostigen Eisenring. Die Begehung des Haupthauses ist zugegebenermaßen unheimlich, und blöd wie man ist, hat man die klamme Erwartung, daß im Keller eine Folterkammer oder sowas ist. Die Gebäude haben weiße und hellblaue Fliesen an den Außenwänden und machen den Eindruck, als seien sie in einem früheren Leben angenehme Sommerlauben gewesen. Überhaupt könnte man das ganze Gelände für eine große, verfallene Ferienkolonie halten, wenn nicht die Natur vom jahrelangen Kriegspielen so mitgenommen wäre.

Vom Haupthaus ziemlich weit entfernt ragt ein schwarzer Spieß in den Himmel, der beim Näherkommen zu einem Denkmal wird. Aber auch das wurde abgeräumt. Von der ehemaligen Abgrenzung sind nur noch die vier an den Ecken stehenden, als Zaunpfähle fungierenden Kanonenrohre übrig, die Eisenkette ist abgezwackt. Und aus der Säule selbst sind die zwei Gedenktafeln rausgerissen. Nur die Zeichen der Soldaten sind noch da. Das früheste eingeritzte Datum stammt von 1954. Allmählich stechen einem auch die Spuren ehemaliger menschlicher Anwesenheit direkter ins Auge. Rostige Konserven, wo mal Kommißfraß drin war, alte Stiefel, unheimliche Löcher und leere, verdächtige Tonnen. Scherben gibt es wenig. In dem feinen Sand kann man schön barfuß gehen. Soldatischer Sachzwang hat das Gebiet zu einem gewaltigen Manöverplatz umgeformt. Es gibt: unübersichtliches Gelände zum Ranschleichen Üben, Unterstände, Verstecke mit guter Sicht zum Feind Totschießen und viele absurd große Aushebungen, in denen man gut getarnt Panzer parken kann.

Die Natur ist in ihrem Innern verletzt. Nur so konnten wir es uns jedenfalls erklären, daß die Luft nach überhaupt nichts roch, obwohl haufenweise Büsche wachsen und an den Rändern auch richtiger Wald ist. Für ein klassisches Naturempfinden fehlt auch das übliche Vogelpiepen. Im Prinzip ist es vollkommen still, bis auf entferntes Autorauschen. Aber trotz des bedenklichen Zustands der Landschaft trottet man nicht deprimiert zurück zum Ausgangspunkt. Denn diese russische Ödnis hybriden Ausmaßes übt eine sonderbare Anziehungskraft aus. Darüber hinaus hat der Gedanke, daß hier nach jahrelanger Gewalttätigkeit beinahe absolute Menschenleere, also sowas Ähnliches wie Frieden, eingekehrt ist, etwas enorm Tröstliches. Katrin Schings