Grüße aus Manchester
: Gut gebrüllt, Löwen!

■ Ian Brodies und Team Englands offizieller EM-Song „Three Lions“

Im Pressezentrum von Wembley war zur Begrüßung noch „Paperback Writer“ gelaufen. Kein Zufall, versteht sich: Das Ding ist – wenn man großzügig ist – ziemlich genau 30 Jahre alt. Alles, was vor ziemlich genau 30 Jahren war, ist ja gerade ... WE did it in '66, verstehen Sie? Und wir schaffen es 1996 wieder. So schreit der Mirror daily. So schreien viele.

Gescheite Leute sagen, man dürfe den einzig zum Zwecke der Auflagenerhöhung geheuchelten, verlogenen Nationalismus der Tabloids nicht automatisch mit den Ansichten der working class heroes gleichsetzen. Auch laufen hier jede Menge ansonsten normaler Menschen herum, die keinen Fuck geben, daß hier überhaupt so etwas wie eine Fußball-EM stattfindet.

Eine gewisse Grundstimmung ist freilich da. Die allerdings ist auch geprägt von etwas, was den Tabloids völlig abgeht: Ironie. Das ist genau jenes Stilmittel, das Popmusik erträglich macht für über Zwanzigjährige – oder Teens, die auch schon zum Fatalismus neigen.

Stell dir vor, du fährst nach Mottram Hall. Oder auf der M6 runter Richtung Birmingham und Villa Park. Oder die M63 rüber zur Anfield Road. Dear Sir or Madam: Und da spielt das Autoradio plötzlich immer einen ganz anderen Song. Und plötzlich ist das eines dieser Teile, wo du am Knopf drehst. Lauter, lauter, lauter...

Three lions on an shirt

Jules Rimet still gleaming.

Man kann über Ian Brodies Band Lightning Seeds einiges wenig Schöne sagen. Aber was er hier gemacht hat, ist... Hören Sie selbst:

Thirty years of hurt

never stopped me dreaming.

Es fängt an mit dem unerträglich-ewigen Leid eines englischen Fußballkommentators: „England müßte kreativer sein. England müßte positiver rangehen.“ 30 Jahre geht das hier schon so! „Thirty years of hurt.“ Und dann erzählen Baddiel und Skinner, die den Text geschrieben haben, daß doch jeder weiß, wie's diesmal ausgehen, und daß England das Ding mal wieder in den Wind schießen wird. Das ganze Naserümpfen, die vielen, vielen Witze!

Weil es sich hier um den offiziellen Song des englischen Teams handelt, muß „Three Lions“ dann selbstredend die Kurve („never stopped me dreaming“) zum Affirmativen kriegen. Und was soll man sagen? Hier macht das Sinn. Das große Gefühl des Pop heißt Sehnsucht und jenes des Fußballs natürlich genauso. Und was soll man sagen: In „Three Lions“ verschmelzen Pop und Fußball für einmal, und die große Sehnsucht des Fußballs nach Pop und vice versa findet ihre Erfüllung.

Wenn genug geträumt ist von Moore, Lineker und Charlton, wird das Nostalgische mit der Erwähnung des zahnlosen Totengräbersohnes Nobby Stiles sofort wieder gebrochen. Hilfe! Auch der notorische Berufstreter Stiles war einer von 1966.

Am Ende überschlägt sich die Stimme des Kommentators, als sie auf der höchsten Woge der Erfüllung ein unsagbar befreiendes „England has done it!“ herausbrüllt. Dann ist Zigarettenzeit, und da erst merkt man, wie sehr man sich auf den Song einlassen mußte, weil der trotz Refrain nicht wiederholt, sondern progressiv Spannung immer weiter aufbaut und am Ende entlädt. Und plötzlich ahnt man: Hey, England braucht gar nicht mehr Europameister zu werden. Alles fühlt sich anders an: Diese verzehrende Sehnsucht ist plötzlich befriedigt.

Nun werden schlaue Leute kommen und sagen: Das soll ironisch sein? Ein Song, der „Three Lions“ heißt und in dem 3:44 Minuten lang „it's coming home, it's coming home“ gesungen wird? Das ist so blöde patriotisch wie einer, der „Bundesadler“ hieße! Und außerdem ist ein Orgasmus auch nicht ironisch. Diesen Sirs or Madams sei gesagt: B.) Der Orgasmus ist auch nicht ironisch gemeint. B.) Ein Song, der „Bundesadler“ hieße, könnte potentiell ziemlich großartig geraten. C.) Jeder kann den Song „Three Lions“ anders fühlen. Vor allem aber: kann man ihn fühlen. Fühlen. Fühlen. Fühlen.

Eigentlich ist es bloß ein kleiner Autoradiosong. Heute auf der Fahrt rüber nach Nottingham wird er ein Leben verändern. Danke sehr. Morgen schmeißen wir ihn weg. Peter Unfried