Am Sonntag wählt Rußland einen neuen Präsidenten. Aussichtsreichste Kandidaten sind Boris Jelzin und KP-Chef Gennadi Sjuganow. Es geht nicht um eine historische Wahl zwischen zwei Ideologien, sondern zwischen zwei Wegen: dem Weg zurück oder dem ins kalkulierbare Chaos Von Klaus-Helge Donath

Jelzin – das Maskottchen

Der Zar ist wieder da! Boris Jelzin, der zwischen Herzinfarkten und Zechgelagen vergaß, sein Land zu regieren, kehrte im rechten Augenblick zurück. Von Rostow am Don bis Nowosibirsk demonstriert er dem Volk Tatkraft und Entschlossenheit. Er badet in der Menge – wie damals, als er fast allein den Kampf gegen die kommunistische Parteinomenklatura aufnahm. Das Volk feierte ihn wie einen Erlöser. Die Bilder heute gleichen sich. Nur diesmal waren seine Berater und Sicherheitsexperten schon vor ihm vor Ort und haben die Jubilierenden handverlesen. Rußlands Zaren sahen immer nur das, was ihre engsten Vertrauten ihnen zumuten wollten – jene Potjemkinschen Dörfer, die eine heile Welt vorspiegelten. Mehr wäre schließlich ein Eingeständnis ihrer eigenen Inkompetenz gewesen.

Im Falle Jelzins steht es nicht ganz so dramatisch. Sein Volk hat sich verändert. Es ist nicht mehr das gleiche wie vor fünf Jahren. Die Manipulation durch die Macht stößt irgendwann an ihre Grenzen, diesen Prozeß hat Boris Jelzin selbst in Gang gesetzt.

Wahlkämpfer Jelzin ist nicht mehr der Reformer der frühen 90er Jahre, der Rußland verhieß, einen Weg in die Zivilisation zu ebnen. Zu viele Rückfälle in die Barbarei begleiten seine Amtszeit. Regierungsstil und Machtpolitik erinnern eher an überkommene Traditionen. Doch eines hat er sich bewahrt: die treibende Kraft des Antikommunismus, die ihn aussehen läßt, als wäre er dem Jungbrunnen entstiegen. Die drohende Gefahr eines kommunistischen Sieges verleiht ihm übernatürliche Energien. Würde er dem Gegner das Feld kampflos überlassen, wäre nicht nur sein Lebenswerk zerstört – die Sieger würden ihn an den Pranger stellen. Insofern kämpft er ums Überleben – bis zum letzten Atemzug. Vielleicht sogar im buchstäblichen Sinne.

Zwingt er den Widersacher zum zweitenmal in die Knie, darf er sich Ruhe gönnen. Denn die kommunistische Partei überlebt die Niederlage nicht. Die Revanche, die sie an der verhaßten Macht nehmen wollte, wird sich nun in den eigenen Reihen abspielen. Man wird sich gegenseitig zerfleischen. Der langjährige Kommunist Jelzin kennt den Mechanismus.

Noch im Januar machten ihn Beobachter zum hoffnungslosen Außenseiter im Rennen um die Präsidentschaft. Fünf Monate später hat er den ärgsten Kontrahenten, den Kommunistenchef Gennadi Sjuganow, in den Umfragen sogar überholt. Die beispiellose Propagandaschlacht des Präsidententeams, bis aufs I-Tüpfelchen professionell angelegt, erklärt den Erfolg indes nur zum Teil.

Tatsächlich befürchtet eine Mehrheit der Bevölkerung, das Land könne in die düsteren Zeiten des Bolschewismus zurückfallen. Jelzin ist das Symbol des anderen Rußlands, das allerdings nur langsam Konturen annimmt. Wer ihm seine Stimme gibt, möchte zumindest den Status quo erhalten. Denn große Hoffnungen, der Präsident könnte die Geschicke in geordnetere Bahnen lenken, hegt wohl kaum einer. Ob er überhaupt noch die Kraft besitzt, nach dem Sieg einen Reformschub auszulösen? Mit größerer Wahrscheinlichkeit fällt er zurück ins Koma, und das Land wurstelt weiter wie bisher.

Es ist ein Paradox: Das überschaubare Chaos behält ein Minimum an Kalkulierbarkeit. Darum geht es den meisten Bürgern, die sich mittlerweile halbwegs zurechtgefunden und eingerichtet haben. Daher spielen die Wahlversprechen des Präsidenten auch keine große Rolle: Sein Ziel, die Inflation nicht die 40-Prozent-Marge im Jahr übersteigen zu lassen, wird er einhalten. Eine gewisse Zeit trägt er dafür Sorge, daß Löhne und Renten pünktlich gezahlt werden. Die Meinungsfreiheit tastet Jelzin nicht an, was ihm die Unterstützung weiter Teile der Intelligenz sichert, die sich zwischenzeitlich schon von ihm abgekehrt hatten. Dafür besteht keine Notwendigkeit mehr, weil der Präsident in vier Jahren ohnehin die politische Bühne verläßt. Bis dahin hat seine Entourage, die ihn aus eigennützigen Gründen drängte, noch einmal zu kandidieren, ihre Schäflein längst ins Trockene gebracht oder sich mit unbekanntem Ziel davongeschlichen.

Wenn der Präsident darüber hinaus noch ein paar andere Versprechen einlöst, wäre es erfreulich, aber man würde es ihm auch nicht nachtragen, sollte er es versäumen. Insgesamt umfaßt sein Aktionsprogramm zweihundert Seiten. Um alle Vorschläge umzusetzen, müßte Rußland schon jener „starke Staat“ sein, den die offizielle Propaganda mit dem Begriff „Gossudarstwennost“ ständig im Munde führt. Indes ist Rußlands Staat so schwach wie nie.

Doch es wächst eine Kraft heran, die jenem janusköpfigen „starken Staat“ allmählich Paroli bieten kann. Ein mündigeres Wahlvolk und eine Jugend, die es sich nicht mehr vorschreiben lassen will, wie sie zu leben hat. Noch einmal prallen unversöhnliche Mentalitäten aufeinander: Die einen sehnen sich nach staatlichem Paternalismus, andere wollen ihre Zukunft selbst gestalten. Zum erstenmal wählt Rußland den Weg, den es einschlagen will, und nicht nur eine Persönlichkeit. Jelzin ist nur noch ein Maskottchen.