Auch Wind kommt vorbei

Theater und Film mögen klasse sein, besser ist der Sommer  ■ Von Detlef Kuhlbrodt

Lange war das Wetter eher krank, und die heißen Tage, die sich in den endlosen Dreckswinter mischten, wirkten ein bißchen pervers und rochen nach nichts. Nun riecht alles klasse, weiche Blüten oder Pollen schneien in zuweilen schon bedenklichen Massen durch die Luft und es ist so heiß, daß man denkt, das sei immer schon so gewesen und verdrängt das unansehnlich depressive Winter-Berlin. Theater und Film mögen klasse sein, besser ist der Sommer. Außen und innen verbinden sich bestens. Die Körpergrenzen verwischen im frischen Schweißfilm, in dem es nie so ganz deutlich ist, ob der frische Schweiß noch Ich ist oder schon Außenwelt. Warm und zugleich so weich und zärtlich wie keine Hand legt sich die feuchte Luft um den Körper und sagt prima. Anfassen tut man sich auch gern.

Auch die Akustik der Stadt verändert sich ins Angenehmere, und vertrauensvoll läßt man sich morgens von der Welt aufwecken. Zweimal in der Woche ist es allerdings nicht so schön; da kommen die Müllmänner wegen dem grünen Punkt und scheppern herum um halb sieben, weil sie neidisch sind, auf die, die noch schlafen und jetzt nicht mehr schlafen und statt dessen ins Badezimmer gehen und in den Spiegel schauen. „Unter der Oberfläche des Gesichts im Spiegel sind Blut, Knochen und Fleisch, aber auch Freunde, Städte, Großmütter, Romane, Götter, Zahlen, Witze, und wahrscheinlich ist es eher die Sozialisation von Empfindungen, denn deren Privatheit, die ich ,spüre‘, wenn der Waschlappen im Spiegel über die beleuchtete Fläche der Haut reibt.“ (Elaine Scarry; „Der Körper im Schmerz“)

Eine Freundin erzählt von einem Bekannten, der sich seit ein paar Tagen bemüht, nicht mehr „ich“ zu sagen. Das ist nicht ganz einfach. Auch Wind kommt vorbei. Kalt duschen sei das letzte Abenteuer des freien Mannes, meint Jens König von der Meinungsseite. Wobei mir nicht so klar ist, ob die kalte Dusche die männlichen Körpergrenzen wieder herstellt oder der Kaltduschkörper sich mit dem Wasser verbindet.

Ich und Nicht-Ich vermischen sich gerne im Sommer. Deshalb raucht und trinkt man viel Nicht- Ich: Bier, Kaffee, Orangenlimo, Zigaretten. Tee ist am besten, besonders „weißer Tee“ (Pai Mu Tan), den Herbert Achternbusch auch sehr schätzt. Ein Bekannter aus Kreuzberg, auf dessen Balkon zwanzig mannshohe Graspflanzen rumstehen, züchtet Psilocybinpilze. Da kennt er sich aus. Damit will er im Herbst zu sich finden und die Verletzungen seiner Person reparieren, weil ihm die Psychoanalyse nicht zusagt. Eine Freundin vermischt Bilsenkraut mit Damiana und Marihuana und sagt, das komme sehr schön. Superangenehm sind die Anfangsphasen eines Bierrausches im Sommer. Zum Beispiel „Bürgerbräu“.

Wer Sonnenfenster hat, kauft sich Gardinen. Nicht damit die anderen auf der anderen Straßenseite einem nicht beim Leben zuschauen können, sondern weil das Sonnenlichtspiel auf den Gardinen klasse aussieht und angenehm wehmütig stimmt. Falsche Meinungen behaupten, Gardinen seien „spießig“, weil sie das Zimmer als Privatraum vor dem Außen allzusehr abgrenzen würden. Das stimmt natürlich nicht. Ganz im Gegenteil. Während nackte Scheiben Grenzen und Schwellen sind, sind Gardinen Mittler und Dämonen. Angenehm weich verbinden sie Zimmer und Draußenwelt. Das Gegenstück zur Gardine sind Gitter oder der Maschendraht eines Käfigs. Eltern vergittern die Fenster der Kinderzimmer, damit die Kinder nicht ins außerfamiliäre Leben fallen. Gelbe Vorhänge sind am Abend auch sehr schön, denn „die Vorhänge sind Dolmetscher für die Sprache des Windes ...“ (Walter Benjamin).

Hinter den Vorhängen sollten Kästen mit bunten Blumen stehen. Daß das selten so ist, deutet darauf, daß die Leute keine Lust haben, anderen eine Freude zu machen. Auch der Kapitalismus versagt da: Blumenkastenhaltkonstruktionen kann man nicht kaufen.

90 Minuten Fußball sind zu kurz eigentlich

Draußen sitzen verrentete oder arbeitslose Sommermänner in kurzen bunten Hosen und hellblauen Schirmmützen auf den Pollern an sonnenbeschienenen Straßenkreuzungen den ganzen Vormittag rum und lesen die BZ und erörtern die Dinge der Welt. Draußen lesen ist übrigens tausendmal schöner als drinnen. Am Nachmittag ist draußen auch der Fußball. Wobei der Fußball in den Zelten, die allerorten zum Fußballgucken aufgestellt sind, nicht so schön ist, weil er da zu sehr im Mittelpunkt steht und die Mitfußballgucker immer dummes Zeug reden und für die Falschen sind, die deshalb auch immer gewinnen. Vermutlich ist es ein Gesetz, daß immer die Falschen gewinnen. (Das ist ja eigentlich auch nicht so schlimm; Hauptsache es kommt ein schönes Spiel vorbei; doch die Spielzerstörer gewinnen ja auch häufig, und das ist schon sehr arg. 90 Minuten sind übrigens zu kurz eigentlich.)

Klasse dagegen ist es jedenfalls in Cafés und Restaurants, die Fernseher aufgestellt haben, wie es sich gehört und in zivilisierten Ländern (Frankreich, Spanien, Italien usw.) ja auch gepflegt wird. Weil es auch viel schöner ist, an Cafétischen sitzend den Fußball zu verfolgen. Am besten ist es wahrscheinlich im „Parlamento“ in der Bergmannstraße. Die haben den Fernseher draußen auf den Bürgersteig hingestellt oder genauer: auf eine selbstgebastelte Fernsehhalterkonstruktion montiert. Außerdem läuft im Fernsehen RAI 1 und die Leute am Nebentisch sprechen auf italienisch über Ravanelli, den sie „die weiße Feder“ nennen. Das Mittelmeer liegt bei Berlin, und man braucht nicht wie andere Menschen im Sommer aus Berlin weg in Gegenden zu reisen, denn Berlin ist im Sommer der Hit.

Wie schön ist es zum Beispiel am Nachmittag im Tiergarten auf den „Langgraswiesen“ oder abends dann und am Ende auf dem Kreuzberg sonnenunterganggucken und später bergrunterfahren. Selbst die nackten Männer stören da nicht, die da ausgezogen rumliegen, weil Männer sich gern nackt ausziehen, aus welchen Gründen auch immer. Kiffer rauchen Hasch in Gruppen und jonglieren dann mit einem faustgroßen Lederball erstaunlich geschickt herum. Dann klingelt das Handy und sie reden mit Hamburg. Dann kommt ein fertiger Trinker und fragt, ob sie seinen Weinbrand ausgetrunken hätten und nervt, wie Alkoholtrinker halt nerven, und trommelt, was die anderen doof finden, und sie bitten ihn, das zu lassen. Dann ruft er aus irgendeinem Grund: „Ich bin Deutscher. Ich kann mit dir Tennis spielen, und ich gewinne, ich kann mit dir Fußball spielen, und ich gewinne; ich kann mit dir rauchen und gewinne.“ Auf seinem Rücken klebt Gras. Seine Jeans ist verdreckt. Er merkt nichts mehr und geht dann. Alkohol macht unliebenswürdig. Haschrausch macht Bierbauch.

Manche werden in der Hitze von Sextrieben bedrängt und gehen dann zum Beispiel in das Sexkino in der Urbanstraße. Dort ist es sehr heiß und riecht nicht so gut. Neulich kam da ein junger Mann ganz nackt auf mich zu und bat um Feuer, während ein zweiter mit offenem Mund vor sich hin schlief. Andere erkranken gerade im Sommer an LSD (Low-Sexual-Desire- Syndrome) und vermehrt auch an BDD (Body Dysmorphe Disorder). Die bilden sich dann ein, entsetzlich häßlich zu sein. Meist verzweifeln sie an einem bestimmten Körperteil, etwa der Nase. 1987 wurde BDD offiziell als psychische Krankheit anerkannt, berichtet die Süddeutsche Zeitung.

Viel besser als BDD oder LSD ist es, nachts im Freien am Landwehrkanal rumzusitzen und die Sterne anstarren, die auch unter der städtischen Dunstglocke außerordentlich schön leuchten, und was mit Leuten zu trinken. Unter freiem Himmel entdeckt man immer neue liebenswerte Eigenschaften an den Leuten. Judith, die morgens um vier aufsteht, um vor der Arbeit noch inline zu skaten, weil sie rollschuhfahrsüchtig ist, schlägt vor, alte Tagebücher, wenn sie einem zu pathetisch erscheinen, einfach zu zerschneiden und neu zusammenzusetzen. Da verschwinde der Kitsch und außerdem sei das interessant. Das könnte man auch mit Zeitungsartikeln machen.