Die Leiche kennt jeder – aber wer ist diesmal der Mörder?

■ Eine Fälschung der Wahlergebnisse wird mittlerweile fast allen Präsidentschaftskandidaten zugetraut

In englischen Krimis geht bekanntlich mitten bei der Dinnerparty das Licht aus. Dann rennen alle Anwesenden aufgeregt durcheinander, und wenn sie wieder die Hand vor Augen sehen können, liegt eine Leiche im Raum. Eine ähnliche Situation zeichnet sich – jedenfalls nach Meinung einiger Berater Präsident Jelzins – in der Nacht vom Sonntag zum Montag in russischen Wahllokalen ab. Die Mörder sind dieser Version zufolge natürlich die Kommunisten. Die Leiche ist die russische Demokratie. Das Mordinstrument heißt Wahlfälschung.

Das Licht, so verbreiten die Jelzin-Administratoren, bräuchte dabei noch nicht einmal auszugehen. Die selbstlosen Getreuen Gennadi Sjuganows brächten allein durch ihr massenhaftes Erscheinen die weniger hartgesottenen Wahlbeobachter anderer Parteien aus der Fassung, um dann hinter deren Rücken ihr heimtückisches Werk zu verrichten.

Kein neutraler politischer Beobachter in Rußland wird bestreiten, daß ein solches Szenarium möglich ist. Aber überall, in allen Wahllokalen? Natürlich unterstützen viele Rentner die Kommunisten, und dank ihrer ausreichend vorhandenen freien Zeit sind sie eher imstande, herauszubekommen, wer an den Wahlurnen erscheint und wer nicht. Sie können sich also gegebenenfalls mit den Personalien der fehlenden Wähler ein zweites Mal an den Urnen anstellen. Einen Verdacht in dieser Richtung gab es bereits bei den Parlamentswahlen im Dezember 1995 – bei den Abstimmungsergebnissen aus den sogenannten Wanderurnen. Helfer der Kommunisten haben Kranken und Greisen die Urne noch in der letzten Wahlnacht nach Hause gebracht. In manchen Regionen brachten diese Stimmen bis zu 40 Prozent für die Kommunisten. Wer da wirklich gewählt hat, ist schwer nachzuweisen.

Mit Sicherheit wird jede der Parteien mit eigenem Präsidentschaftskandidaten versuchen, auf dem Territorium ihrer Vorherrschaft so gut zu betrügen, wie sie kann. Aber es gibt einige, die in dieser Hinsicht „gleicher“ sind als alle anderen – die Jelzin-Leute, die Repräsentanten der Moskauer Zentralmacht also. Auf der Ebene der Bezirke oder aber der autonomen Republiken, die die Russische Föderation bilden, genügt schon der Federstrich eines einzigen Wahlkomissionsvorsitzenden, um Tausende von Stimmen ungültig zu machen. An dieser Stelle sei an die Reaktion von Ministerpräsident Viktor Tschernomyrdin erinnert, der nach den Dezemberwahlen 1995 erklärte, er werde es gewissen Gouverneuren heimzahlen, daß seine Partei „Unser Haus Rußland“ in deren Hoheitsbereich kümmerlich abgeschnitten hat.

Viel liegt also in den Händen des Vorsitzenden der Zentralen Wahlkomission, Nikolai Rjabow. Die Kommunisten sehen in ihm eine Marionette Jelzins. In Rußland trauen die Leute allen Politikern alles mögliche zu. Ihnen ist aber auch klar, daß Präsident Jelzin mit all seinen administrativen Möglichkeiten zweifellos am längeren Hebel sitzt.

Eine weitere Wahlfälschung würde der sich entwickelnden russischen Demokratie nicht gut bekommen. „Ich war immer für die Demokraten“, erzählte eine 81jährige Bäuerin im nordrussischen Gouvernement Wologda. „Ich erinnere mich noch, wie die Kommunisten das Letzte von unserem Hof weggeholt haben. Und als ich vergangenen Dezember in mein Wahllokal kam, da mußte ich anhand der Wählerliste feststellen, daß mein vor sechs Jahren verstorbener Mann schon ein paar Stunden vor mir dagewesen war und abgestimmt hatte. Da bin ich lieber wieder umgekehrt.“

Der Argwohn in Rußland ist mittlerweile so groß, daß jeder, der die Wahlen gewinnt, im Ruf steht, sie gefälscht zu haben. Barbara Kerneck