: Die Abwicklung der Verantwortung
Die Debatte um die Streichung des Studiengangs Sozialpädagogik an der TU ist kein Beitrag zur Spardiskussion, sondern ein Politikum: Unliebsame Fakten und Fragen sollen verdrängt werden ■ Von Christina Thürmer-Rohr
Ich will hier nicht noch einmal in die Trauer- und Wutgesänge zur allgemeinen Sparpolitik einstimmen, sondern nach der Logik fragen, mit der es gerade diesen Studiengang trifft. Ein „Doppelangebot“ ist die Sozialpädagogik an der TU nicht: Das Institut hat sich in inhaltlicher Arbeitsteilung zu dem sehr viel kleineren Institut der FU entwickelt. Ein vergleichbarer Studiengang existiert in der Berliner und Brandenburger Universitätslandschaft nicht.
Die diskutierte Abwicklung ist vielmehr ein Lehrstück, und seine Logik ist unheimlich, weil sie so berechenbar ist. Sie bestätigt alle Urteile und Vorurteile über die öffentliche Diskriminierung der „sozialen Frage“, die ja der Gegenstand dieser Ausbildung ist. Die Sozialpädagogik ist ein brisantes, ein extensives und ein kritisches Fach, denn es konfrontiert mit Krisen, Gefährdungen, Ungerechtigkeiten, die Menschen treffen, welche sich auf den Schattenseiten der Gesellschaft befinden. Es versammelt Individuen – 850 immatrikulierte Studierende, davon 71 Prozent Frauen – , die der altmodischen Motivation folgten, sich in der „sozialen Arbeit“ nützlich zu machen und sich mit der Erforschung der Ursachen gesellschaftlicher Diskriminierungen zu befassen. Dieses Engagement wird kurzerhand entbehrlich gemacht.
Die debattierte Eliminierung der Sozialpädagogik ist keine „Sparmaßnahme“, sondern ein Politikum. Es spielt sich ab an einer Universität, die sich vor 50 Jahren – nach ihrer aktiven Mitwirkung an der nationalsozialistischen Kriegsforschung – unter Supervision der britischen Alliierten einen Neugründungsauftrag gegeben hatte, mit dem sie die gesellschaftliche Verantwortung der Universität und die „Bildung des ganzen Menschen“ wahrnehmen wollte. Es ging darum, der Eindimensionalität entgegenzuwirken, die immer droht, wenn die Konsequenzen eines spezialisierten Forscher- und Machertums aus dem Blick verschwinden, so auch die sozialen Folgen der technologischen Entwicklung.
Eine Abwicklung der Sozialpädagogik wäre eine konsequente Maßnahme auf dem Weg zur Meinungskonformität, zur erneuerten Borniertheit der Universität und ihrer Rationalisierung zum Großbetrieb, die den schleichenden Verlust einer universitären Verantwortungsethik fortsetzt. Es ist kein Zufall, daß diese Bereinigung zu einem Zeitpunkt machbar wird, wo in Berlin die Verpflichtung gegenüber alliierten Auflagen entfällt und die Rücknahme des fünfzigjährigen Verzichts auf „Verteidigungsforschung“ wieder salonfähig wird.
Die debattierte Abwicklung des gesamten Studiengangs Sozialpädagogik ist ebensowenig Zufall wie die Unsichtbarkeit der Proteste zu seiner Erhaltung. Das Wort „Sozialpädagogik“ tauchte weder auf Transparenten noch in der Presse überhaupt auf. Auch diese öffentliche Unsichtbarkeit ist ein politischer Fall. Sie hat zu tun mit dem Gegenstand der Sozialpädagogik, mit der gesellschaftlichen Abwertung sozialer Probleme, der gesellschaftlichen Abwertung von Frauen, der wissenschaftlichen Diskriminierung des Handelns, schließlich auch der Selbstabwertung vieler Berufsinhaber/innen. Die Situation konfrontiert uns mit krassen Widersprüchen:
Die Geschichte der Sozialpädagogik ist widerspruchs- und anspruchsvoll und aufs engste verknüpft mit sozialen Bewegungen – von der Bildungs- und Emanzipationsbewegung der Aufklärung über die erste Frauenbewegung bis zur feministischen, ökologischen und antirassistischen Gesellschaftskritik. Der Gegenstand – „soziale Probleme“ der Gesellschaft – betrifft längst nicht nur individuelle und lokale, sondern globale und internationale Fragestellungen. Die UNO hat Anfang der neunziger Jahre ein Dokument verfaßt, mit dem – analog zur ökologischen Problematik – ein Bewußtseinsbildungsprozeß über soziale Probleme in Gang gesetzt werden sollte und Soziale Arbeit/ Wissenschaft im weiten Sinne als Menschenrechtsprofession definiert wird. Die Herausforderung für die Sozialpädagogik liegt darin, die Frage der Menschenrechte zum Ausgangspunkt, zur Grundorientierung dieser Profession zu machen. Das bedeutet viel. Soziale Arbeit/Wissenschaft besinnt sich damit wieder verstärkt auf ihre politische Bedeutung, sie versteht sich als einen wissenschaftlichen und praktischen Beitrag zur Durchsetzung der großen Ziele „Gerechtigkeit“, „Gewaltlosigkeit“, „Selbstbestimmung“, „Nichtdiskriminierung“ etc. Das bedeutet, die lokalen Probleme in einem „weltweiten“ Kontext zu analysieren, sich mit der Tradition der Menschenrechte einschließlich ihres ethnozentrischen Mißbrauchs – einem „Kolonialismus im Gewande der Humanität“ – auseinanderzusetzen und Handeln nicht nur als individuelle Hilfe, sondern als politische, öffentliche Intervention zu verstehen. Mit der Definition als „Menschenrechtsprofession“ befreit sich das Wissenschafts- und Berufsverständnis erneut von ihrer lastenden Tradition, der Selbstgenügsamkeit mit der kleinen Reparaturarbeit im sozialen Nahbereich. Eigentlich müßte es von größtem wissenschaftlichen und politischen Interesse sein, eine entsprechende Disziplin an der Universität zu halten und zu fördern.
Im krassen Gegensatz zur inhaltlichen Bedeutung der Profession steht ihre gesellschaftliche Abwertung. Hinter dieser Geringschätzung verbirgt sich die Abwertung des sozialpädagogischen Gegenstands. Gesellschaft und Politik produzieren soziale Probleme massenhaft und wollen sie sich gleichzeitig weitestmöglich vom Leibe halten. Soziale Probleme werden marginalisiert, kaschiert, verdunkelt, an den Rand befördert, und so läßt sich das Vorurteil einer im Prinzip intakten Gesellschaft einigermaßen aufrechterhalten. Wenn soziale Probleme zu Abfall und Ausschuß werden, wird die entsprechende Wissenschaft ebenfalls zu Abfall gemacht. Die drohende Beseitigung des Fachs Sozialpädagogik ist so auch ein Schritt auf dem Weg, unliebsame Fakten und Fragen aus dem öffentlichen Bewußtsein zu beseitigen: Die Probleme werden unsichtbar gemacht auch mit Hilfe der Unsichtbarmachung des mit ihnen befaßten Fachs. Wer die diskriminierten Probleme benennt und analysiert, wird mit diskriminiert, macht Probleme und macht sich an ihnen schmutzig.
Die Sozialpädagogik trifft außerdem auf ein schwerwiegendes technokratisches Vorurteil, das wiederum geeignet ist, seine Abwertung zu legitimieren: die Forderung nach Effizienzorientierung. Dieses Vorurteil mißt soziale Probleme am Maßstab einer defekten Maschine, die von Fachleuten repariert werden soll. Da die Sozialpädagogik die Probleme aber nicht „lösen“ kann, werden die Erwartungen an die Produktivität dieses Fach gnadenlos aufgekündigt: Wenn soziale Probleme mit pädagogischen Mitteln nicht reparabel sind, ist das Fach auch entbehrlich, jedenfalls universitär. Diese Logik enthält ein gefährliches Totschlagargument.
Soziale Probleme sind in der Tat mit pädagogischen Mitteln nicht aus der Welt zu schaffen, denn ihre „Klientel“ ist nicht deren Ursache. In dem Angriff steckt außerdem ein Menschenbild, mit dem die Lebens- und Überlebensprobleme von Menschen am Modell des Herstellens gemessen werden („Wo gehobelt wird, da fallen Späne“). Schlichte Effizienzorientierung deformiert aber jedes soziale Denken und soziale Handeln. Frauenhäuser zum Beispiel werden nicht wertlos, weil durch sie die strukturelle Gewalt gegen Frauen nicht abgeschafft wird. Ihr entscheidender Wert liegt neben aktuell notwendiger Hilfe darin, neue Erfahrungen zu ermöglichen. Die Erfahrung zwischenmenschlichen Handelns kann das Leben irritieren, aktivieren, verändern, es kann Menschen unterstützen, ermutigen, zur Reflexion, zu neuen Entscheidungen bringen. Das Kennzeichen dieses Handelns liegt gerade darin, daß es sich der Berechenbarkeit eines mechanistischen Funktionierens entzieht. Das Handeln unter Menschen ist eine Frage des Verstehens, des Dialogs, des Austausches, der Anregung, der Zwischenmenschlichkeit. Was daraus wird, bleibt unwägbar. Diese Tatsache aber ist allen Technokraten im Kopf vollends unerträglich. Wer die sozialpädagogische Produkt- und Effektorientierung fordert, fordert nicht Wissenschaftlichkeit, sondern nötigt zur Unmenschlichkeit.
Die Tatsache, daß die Sozialpädagogik eine Handlungswissenschaft, keine Problemlösungswissenschaft ist – jedenfalls nicht erstrangig –, da sie die vor 200 Jahren formulierten Utopien der Menschheitsverbesserung einfach nicht einlöst, kann wohl kein Grund dafür sein, dem Fach die Existenzberechtigung abzusprechen.
Eine Wissenschaft hat sich nicht dadurch zu legitimieren, da sie Handwerker/innen für einen erfolgreichen Pannenreparaturbetrieb ausbilden und eine Problemdefinition vorlegen soll. Sinn und Zweck der Sozialpädagogik ist die Reflexion und Analyse, die Ursachenforschung über diskriminierende Ideologien und Praktiken einer Gesellschaft und Geschichte, die konkrete Menschen und Menschengruppen in ihrer Existenz treffen. Diese Wissenschaft sieht im Handeln die wesentliche – vielleicht immer mehr verschwindende – menschliche Fähigkeit, die einzige Tätigkeit, die sich ohne Vermittlung von Material und Dingen direkt zwischen Menschen abspielt und ihre Macht oder Ohnmacht bestimmt; ihr geht es um den Versuch, das Handeln von Menschen in der Gesellschaft zu verstehen, und um den Versuch, mit Menschen zu handeln. Diejenigen, die heute Effektivität und Zweckorientierung zum einzigen Maßstab dieser Anstrengungen machen, entblößen nichts anderes als traurige Inkompetenz oder bewußte Ignoranz, und beide sind deswegen so zum Verzweifeln, weil sie über Macht und Mehrheit verfügen.
Zweifellos tut eine so verstandene Sozialpädagogik sich schwer, sich in konventionelle Wissenschaftsstandards einzuordnen. Das hat mit „Unwissenschaftlichkeit“ gar nichts zu tun, vielmehr mit der Realität, die wir nicht erfinden, sondern vorfinden. In dem vom herkömmlichen Kodex abweichenden Wissenschaftsverständnis drückt sich auch ein Kampf um und mit dem Gegenstand aus. Sexistische und rassistische Diskriminierung ist kein „soziales Problem“ im klassischen Sinne, sondern ein politisches, und Herrschaftsanalyse enthält nicht den schnellen handlichen Lösungsvorschlag. Gleichzeitig hat dieses Fach aber unausweichlich mit konkreten Miseren zu tun und will sich dem Bedarf nach aktuellen Abhilfen nicht entziehen. Es setzt sich das Ziel, Theorie und Praxis zu verbinden, und die Beteiligten laufen Gefahr, an ihrem eigenen Anspruch zu scheitern.
Die unmittelbare Nähe zur schlichten Alltagspraxis verführt zur Flickschusterei in den jeweiligen sozialen Nah- und psychischen Binnenräumen. Manche lassen sich zu einer Praxisdominanz nötigen, unter deren Druck ihnen dann wenig einfällt gegenüber dem verheerenden Vorurteil, Theoriebildung werde angesichts der Dringlichkeit der Probleme zum entbehrlichen Luxus. Das ist ein gefährliches Eigentor, das diesem Fach immer wieder das Kennzeichen des Theorienotstands oder auch der Theoriefeindlichkeit einträgt. Eine feministische Kritik hat sich gegen solche Konventionen seit langem gewehrt, denn mit ihnen setzt sich eine geschlechtsspezifische Arbeitsteilung fort, nach der Männer für die Theoriebildung, Frauen für den karitativ bleibenden Hilfeversuch der sogenannten Praxis zuständig bleiben. Der Zusammenhang von Denken und Handeln wird wieder zerschnitten und eine Spaltung verfestigt, die die patriarchale Kultur mit größtem Erfolg ununterbrochen betreibt. Das Denken wird delegiert, anstatt es allen zuzutrauen.
Wenn wir uns diesem Trend nicht widersetzen, steht das Ergebnis fest: die erneute Verengung und Entpolitisierung der Arbeit, die Ablenkung von den Zusammenhängen, auf denen wir bestehen und die wir weiterzuentwickeln haben – den Zusammenhängen von Pädagogik, Ethik und Politik. Die Sozialpädagogik kann sich nicht zu einem Wissenschaftsverständnis zwingen lassen, das auf Standardisierung, Vorhersagbarkeit und Verwertbarkeit aus ist. Eine verantwortliche Wissenschaftspolitik müßte gerade eine Disziplin, die zu den üblichen Konventionen notwendigerweise quer liegt, den Raum in der Wissenschaftslandschaft sichern und sich in ihrer Eigenständigkeit entwickeln lassen.
Das klingt naiv. Eigentlich wäre es folgerichtig, wenn gerade diese Arbeit in aller Stille begraben wird – ein neuer Akt des Überflüssigmachens von Menschen, der jedes Vertrauen in die Möglichkeit des Handelns zerstört. So scheint sich der Kreis zu schließen. Die Entscheidung zur Abwicklung gäbe der Herrschaftskritik in allen Punkten recht. Und recht zu haben erfüllt in diesem Fall niemandem mit Stolz, eher mit resigniertem Schweigen – ein reibungsloser Sieg.
Auch der ernst gemeinte Vorschlag, daß die lebenslänglich beamteten Professoren mit einer kleinen Gehaltskürzung ihren Beitrag zur inneruniversitären Umverteilung leisten könnten, scheint ihn nicht aufzuhalten. Vielleicht wird die nächste Generation auf ihre Weise einen neuen Versuch unternehmen. Die vielen abgebrochenen Vorhaben liegen jetzt in ihren Händen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen